Kirchheim

Musik, Glaube, Widerstand

Religion Bibel, Talmud, Koran – für gewöhnlich wird religiöses Wissen mit heiligen Schriften weitergegeben. Bei den Aleviten ist das anders: Lieder sind für sie das Tor zum Glauben. Von Daniela Haußmann

Die türkische Langhalslaute, die auch Baglama genannt wird, hat für Aleviten wie Veysel Aydin (links) und Necmi Öztürk einen zen
Die türkische Langhalslaute, die auch Baglama genannt wird, hat für Aleviten wie Veysel Aydin (links) und Necmi Öztürk einen zentralen Stellenwert. Foto: Daniela Haußmann

Sonntag, 16 Uhr. Hinter der unscheinbaren Fassade des Kirchheimer Riethmüller-Areals pulsiert das Leben. Lange Neonleuchten erhellen den weißen Raum im ersten Stock in der Alleenstraße. Männer und Frauen sitzen dicht gedrängt auf Stühlen. Ungeduldig rutschen die Kinder auf ihren Kissen herum.

Einmal pro Woche treffen sich die Aleviten aus Kirchheim und Umgebung in ihrem Kulturzentrum. Hier feiern sie nicht nur Gottesdienst. Sie leben ihre Traditionen und Bräuche. Während der türkische Teekessel im Versammlungsraum durch viele Hände von Glas zu Glas wandert, greift Necmi Öztürk in der Küche zur Säge.

Zwei schnelle Hiebe - im Nu durchtrennt das gezackte Blatt einen Butternut-Kürbis. Anschließend entfernt Öztürk mit einem Löffel das Fruchtfleisch. Was übrig bleibt, sind zwei Hohlkörper, die der Wendlinger zum Trocknen auf die Heizung legt. „So entstand vor 5 000 Jahren im sumerischen Reich die Kopuz, eine zwei- oder dreisaitige Langhalslaute“, erzählt Hasan Budak. „Aus ihr entwickelten sich später die iranische Tambure, die anatolische Baglama und die griechische Bouzouki.“ Aber auch die mit Italien verbundene Mandoline oder die Gitarre finden in der Kopuz ihren Vorläufer.

In der vorislamischen Zeit wurden, begleitet von der Baglama, Geschichten, Gedichte und Lebensweisheiten verbreitet, wie das Vorstandsmitglied des alevitischen Kulturzentrums berichtet. „Diese Aufgabe übernahmen sogenannte Asiks“, sagt Hasan Budak. „Sie zogen nicht nur von Dorf zu Dorf zogen, um Weisheiten weiterzugeben.“ Vielmehr griffen sie die Bedürfnisse der Menschen auf, um sie den jeweiligen Herrschern zu überbringen. „In einer Zeit, in der es keine staatlichen Gesetze gab, wurde so politische Teilhabe erzeugt“, weiß Veysel Aydin.

Der Berufsmusiker, der in seiner Heimat rund 100 000 Tonträger verkauft hat, schneidet ein Stück Leder zu. Anschließend zieht er es über einen Kürbis, den Necmi Öztürk seit Oktober getrocknet hat. Veysel muss sich anstrengen, um die Reißnägel in die Schale zu drücken, die in den vergangenen Wochen wider Erwarten ziemlich hart geworden ist. „Die Baglama ist für uns Aleviten das Tor zum Glauben“, erzählt der Kurde. „Manche Konfessionen nutzen die heilige Schrift als Instrument, mit dem religiöses Wissen weitergegeben wird. Bei uns geschieht das mit der Laute, die deshalb den Status der Heiligkeit besitzt.“

Schon vor 5¿000 Jahren musizierten Menschen auf Zupfinstrumenten, deren Klangkörper aus einem Kürbis und deren Saiten aus Rossha
Foto: Daniela Haußmann

„Mit der Entstehung des Islams setzte eine fortschreitende Diskriminierung und Verfolgung von Aleviten ein“, erzählt Hasan Budak. Der Grund: Viele der im Koran geltenden Gebote und Verbote werden von Budaks Glaubensbrüdern und -schwestern nicht befolgt. „Weder die Scharia noch die fünf Säulen des Islam sind für uns von Bedeutung“, berichtet der Vorstandsvertreter. „Wir legen Koran nicht wörtlich aus, sondern suchen die Bedeutung hinter der Offenbarung.“ Die Verfolgung habe letztlich dazu geführt, dass die Aleviten ihre Glaubensinhalte in Form von Liedern und Gedichten mithilfe der Baglama weitergeben. Für Veysel Aydin ist das uralte Instrument aber auch ein Ausdruck des politischen Widerstands.

Im Verlauf der 1980er-Jahre wurde Aydin in der Türkei dreimal inhaftiert, weil er - genau wie die Asiks in vorislamischer Zeit - die Laute spielte, um sich für Menschenrechte und die Gleichberechtigung von Sunniten und Aleviten einzusetzen. „Damals brachen sie mir im Gefängnis den Arm, die Finger und den Oberschenkel“, erinnert sich der Musiker. Die meisten Aleviten weltweit leben in der Türkei. „Auch unter Erdogan sind sie dort noch immer die Zielscheibe von Pogromen und Anschlägen, die von der sunnitischen Mehrheit begangen werden“, kritisiert Veysel Aydin. „Heute lebe ich in Kirchheim, weil ich genau das in meinen Liedern angeprangert habe. Würde ich zurückgehen, würde ich sofort im Gefängnis landen.“

Inzwischen hat Necmi Öztürk den lederüberzogenen Kürbis mit einem Bundstab versehen, auf den er drei Saiten spannt. Der Wendlinger wollte schon immer eine Baglama nach historischem Vorbild bauen. Vorsichtig streicht er über die Saiten. Lebendige Rhythmen und orientalische Melodien hallen durch die Küche in den Versammlungsraum. Während Öztürk die jahrhundertealten Gedichte singt, die viel Leid, aber auch Hoffnung in sich tragen, stimmen einige der sonntäglichen Besucher in den Gesang des Asik ein. Die Baglama gehört zum Alevitentum wie die Orgel zur Kirche. „Im Zentrum unseres Glaubens steht der Mensch. In ihm ist Gott zu finden und nicht in etwas Außermenschlichem wie einer Schrift oder einem Glaubenssatz. Von dieser Auffassung leitet sich Respekt für alle Teile der Schöpfung ab“, bilanziert Hasan Budak. Er schließt die Augen und lauscht dem Klang der Ur-Baglama.