Kirchheim

„Provokation sorgt für Aufmerksamkeit“

Rückblick Mit 12,6 Prozent der Stimmen ist die AfD in den Bundestag eingezogen. Rund um die Teck wurde dieses Ergebnis in einigen Wahlbezirken sogar überschritten. Von Melissa Seitz

Genauso präsent wie die etablierten Parteien war auch die AfD während des Wahlkampfes – wie hier auf einer Zufallsaufnahme in de
Genauso präsent wie die etablierten Parteien war auch die AfD während des Wahlkampfes – wie hier auf einer Zufallsaufnahme in der Kirchheimer Innenstadt. Archiv-Foto: Markus Brändli

Mit der AfD ist jetzt eine rechtspopulistische Partei in den Bundestag eingezogen. Mit 12,6 Prozent der Stimmen hat sich die Partei einen festen Platz in Berlin gesichert - ein Ergebnis, mit dem viele nicht gerechnet hatten. Auch in Kirchheim hat die Alternative für Deutschland Anhänger gefunden - auffallend viele in Wahllokalen in der Kirchheimer Teck-Realschule: 28,4 Prozent und 24,9 Prozent der Wähler aus Zimmer 110 und 108 gaben ihre Erststimme der AfD. Bei den Zweitstimmen waren es 26,1 und 25,1 Prozent.

Über das „Wieso“ lässt sich natürlich nur spekulieren. Doch eins ist klar: In diesen Wahlbezirken wohnen mehr Spätaussiedler als in anderen Wohngegenden in Kirchheim. „Ich möchte nicht ausschließen, dass Russlanddeutsche unter den AfD-Wählern sind“, sagt Renate Hirsch. Sie ist Leiterin der Chai-Beratungsstelle in Kirchheim und singt im deutschrussischen Chor „Melodija“. Bei einem Gespräch mit einem Gesangskollegen rückte die Flüchtlingskrise kürzlich erst in den Mittelpunkt: „Manche sehen die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland kritisch. Doch so denkt nicht jeder“, betont sie. Man könne nicht alle über einen Kamm scheren.

„Ich erwarte keine Kehrtwende“

Bei ihrer Arbeit in der Beratungsstelle Chai hat Renate Hirsch mit Menschen zu tun, die die Flüchtlingspolitik als „Merkels verfehlte Politik sehen“. „Ich bin erschrocken von manchen Sichtweisen. Ich erwarte aber auch keine Kehrtwende. Mit manchen Menschen lässt sich nicht reden“, stellt die Leiterin der Beratungsstelle fest.

Auch in den Albdörfern hat die AfD viele Anhänger: 15,5 Prozent der Wähler gaben ihr in Schopfloch beispielsweise ihre Erststimme, 17 Prozent setzten ihr zweites Kreuzchen dort. „Es ist schwierig, in die Köpfe der Menschen zu schauen“, sagt Ortsvorsteher Gunter Berger. „Ich hatte gehofft, dass das Ergebnis anders ausfällt. Mit solchen Zahlen hätte ich nicht gerechnet.“

Wieso die Rechtspopulisten so viele Schopflocher für sich gewinnen konnten, ist für Gunter Berger schwer einzuschätzen: „Die Flüchtlings-Problematik ist bei uns kein Thema. Ich denke, dass manche Menschen einfach mit der Allgemeinsituation in Deutschland unzufrieden sind.“ Er befürchtet, dass bei vielen der Eindruck herrscht: „Die große Politik achtet sowieso nicht auf die Bürger.“ War das Wahlverhalten also eine Trotzreaktion?

Für Heval Demirdögen ist klar: Die AfD hatte eine perfekt inszenierte Strategie. „Provokation sorgt für Aufmerksamkeit“, sagt der Leiter des Projekts „Leuchtlinie“. Die Präsenz bei vielen Diskussionen im Fernsehen und bei Veranstaltungen, der unerwartete Abgang von AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel bei einer ZDF-Show und andauernde Provokationen - alles Taktik, um potenzielle Wähler auf sich aufmerksam zu machen. „Die AfD hatte in den Medien eine richtige Plattform“, sagt Heval Demirdögen.

Mehr Angriffe über das Netz

Bei der „Leuchtlinie“ finden Menschen Hilfe, die diskriminiert, ausgegrenzt oder wegen ihrer Religion, Hautfarbe oder Einstellung angegriffen werden. Auch in Kirchheim gibt es seit Juni eine solche Anlaufstelle. Dass die rechte Gewalt und der Unmut gegen Flüchtlinge und Ausländer in der Gesellschaft einen festen Platz haben, ist Heval Demirdögen schon lange klar: „Die Mitarbeiter haben es mit einer hohen Opferzahl zu tun“, erklärt er, „und ich gehe auch davon aus, dass das auch in Zukunft so bleiben wird.“ Während des Wahlkampfes änderte sich die Art der Anfeindungen: „Es gab sehr viele Menschen, die im Netz rechter Gewalt ausgesetzt waren.“

Der Ausgang dieser Bundestagswahl war keineswegs vorgegeben - zumindest nach Meinung von Heval Demirdögen: „Die etab­lierten Parteien haben die Strategie der AfD nicht erkannt. Sie hätten ihren Fokus viel mehr darauf legen sollen, was ihnen wichtig ist.“ Zum Beispiel auf die Förderung des Bundesprogrammes „Demokratie leben“, das sich für ein gewaltfreies Miteinander einsetzt. Es läuft 2019 aus.