Kirchheim

Randnotiz: Die Mär vom Kaufparadies

Es war einmal ein kleiner Junge. Dessen Eltern lehrten ihn eine Lektion: Wenn du etwas brauchst, dann geh in unsere Stadt. Es ist wichtig für die Läden, dass man bei ihnen einkauft, sonst gibt es sie eines Tages nicht mehr und unsere Stadt ist tot und leer. Dort sind auch nette Menschen, die dir Rat geben und helfen.

Eines Tages begleitete der Junge seine Mutter in ein Kurzwarengeschäft. Sie brauchte Ösen. Das Päckchen war schnell gefunden. Zahlen wollte die Frau mit ihrer EC-Karte. „Das geht erst ab zehn Euro“, sagte die Ladenbesitzerin. Die Mutter kratzte ihr Bargeld zusammen. Schließlich fehlten ihr noch drei Cent. Die Frau an der Kasse verdrehte die Augen und murrte: „Ausnahmsweise gebe ich ihnen die Ösen trotzdem mit - aber die drei Cent müssen Sie mir später bringen.“

Einen anderen Tag bat der Junge seine Mutter, mit ihm in die Stadt zu gehen. Er wollte ein neues, größeres Magazin für sein Spielzeuggewehr haben. Im Regal des Spielwarenladens war es nicht zu finden. Wie er es gelernt hatte, ging der Junge zur Verkäuferin und fragte: „Entschuldigung, haben Sie noch große Magazine?“ Die Frau zuckte nur die Achseln: „Wenn sie nicht im Regal sind, gibt es eben keine.“ Der Junge ließ die Schultern hängen. Da mischte sich seine Mutter ein: „Können Sie vielleicht eines für uns bestellen?“ Die Frau stieß ein Lachen aus und schüttelte den Kopf. „Einzelteile bestellen ist schlecht. Die brauchen mindestens drei Wochen, bis sie da sind.“ Die Mutter fragte: „Also sollen wir lieber im Internet schauen?“. Zum ersten Mal nickte die Frau: „Ja, das ist besser.“

Wenige Tage später brauchte der Junge eine neue Hose. Er fand eine in einem Mode-Kaufhaus im Zentrum der Stadt. Allerdings hatte sie einen gezogenen Faden im Bein. „Haben Sie die noch mal da?“ fragte die Mutter. „Nein, tut mir leid.“ „Gibt es dann vielleicht einen Preisnachlass? Was ist, wenn die Masche beim Waschen weiter aufgeht?“ Die Frau holte Rat bei Ihrer Kollegin. „Statt für 49,95 Euro können Sie die Hose für 44,95 Euro haben“, sagte sie dann. „Und wenn der Faden weiter aufribbelt, darf ich sie dann wieder bringen?“, fragte die Mutter und bekam die Antwort: „Nein, tut mir leid. Reduzierte Ware ist vom Umtausch ausgeschlossen.“

Mutter und Sohn traten aus dem Geschäft und nahmen das Handy heraus. Sie fanden die Hose für 35,99 Euro, das Magazin für das Gewehr und Ösen.„Mama, warum nochmal sollen wir in die Läden gehen statt im Internet zu bestellen?“, fragte der Junge. Er hatte offenbar eine ganz neue Lektion gelernt.

Und falls die Läden nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Bianca Lütz-Holoch