Kirchheim

Stimmen, die die Zeit auflösen

Konzert Der Kammerchor Baden-Württemberg ersingt sich in der Christuskirche Standing Ovations.

Symbolbild

Kirchheim. Der Kammerchor Baden-Württemberg gastierte am Wochenende nicht zum ersten Mal in Kirchheim. Mit ihrem neuen Programm „Zeitlos“ traten sie jedoch zum ersten Mal in der neu renovierten Christuskirche auf.

Jochen Woll, der Chorleiter des Kammerchores, versprach gleich zu Anfang eine musikalische Reise durch die Zeit und versetzte mit dem ersten Stück „Agnus Dei“ von Josquin Desprez die Zuhörer ein halbes Jahrtausend in die Vergangenheit zurück. Über die Grundpfeiler des Basses entfalteten sich Melodien, türmten sich kathedralartig übereinander und verebbten im ewigen Gleichmaß des Taktes. Wahrlich eine zeitlose Musik. Und besonders, wenn man sie in dieser Präzision und einer unglaublichen Stimmenreinheit hören durfte.

Die Zeitreise setzte sich fort mit Johann Hermann Scheins Psalmvertonungen: „Wende dich, Herr, und sei mir gnädig“ und dem bekannten 90. Psalm „Unser Leben währet siebzig Jahre“. Der Text beschreibt die ganzen Tiefen des Menschseins, das Elend und den ganzen Jammer der Welt.

Dem Kammerchor gelang es, diese Emotionen und Aufwallungen fast beschwörend und mit großer deklamatorischer und dynamischer Ausdruckskraft in einer eindringlichen Dichte musikalisch zu gestalten.

Keine Musik von Traurigkeit

Wieder ein Zeitsprung hin zu dem großen Thomaskantor Johann Sebastian Bach. Die Kantate „Der Geist hilft unser Schwachheit auf“ wurde für eine Trauerfeier geschrieben. Aber sie ist keinesfalls eine Musik von Traurigkeit. Sofort vom ersten Ton der doppelchörigen Motette wurde das Publikum elektrisiert und vom gewaltigen vielstimmigen Klang mitgerissen. In tänzerischem Rhythmus, in teils halsbrecherischen Koloraturen, die einzelnen Stimmen gegenseitig wetteifernd, eilten Text und Musik voran, um im Schlusschoral den Trost und die Gewissheit im Glauben zu finden.

Mit der Vertonung des 22. Psalms von Felix Mendelssohn Bartholdy „Mein Gott, warum hast du mich verlassen“, eine Motette für Soli und Doppelchor, erreichte die Zeitreise die Romantik. Anschaulich beschreibt der Psalmist das Elend und die Not eines einzelnen Menschen, der aber trotzdem das Vertrauen auf Gott nicht verliert. Die einstimmige Klage des Tenorsolisten findet die Fortsetzung im schlichten, fast überirdischen Chorgesang. In chromatischen Tonstufen folgt die eindringliche Klage und bildhafte Beschreibung des eigenen elenden Zustandes, um dann choralartig im Credo zu enden.

Im darauffolgenden Werk „Verleih uns Frieden“ schuf Jochen Woll eine zeitgemäße 16-stimmige Bearbeitung der Mendelssohn-Motette. Die Choristen verließen dabei ihren angestammten Chorplatz und verteilten sich im Rund der Kirche. Das Klangexperiment bestand darin, das Zeitmaß bis ins Unerträgliche auszudehnen.

In dieser Langsamkeit, der Auflösung der Zeit, geschah das Unerwartete. Die Reibungen und Dissonanzen der Töne erzeugten Obertöne, die in himmlischem Glockengeläut endeten. Ein für alle sicher einmaliges Klangerlebnis. Hier zeigte sich besonders die sängerische Qualität des Chores. Denn das Experiment konnte nur bei größter Intonationssicherheit und geschicktem chorischem Atmen gelingen.

Choristen wird alles abverlangt

Jede Zeitreise endet in der Gegenwart. Das „De tempore“, ein jegliches hat seine Zeit, von Petr Eben setzte den Schlusspunkt. Ein Text, der all unser Tun zurechtrückt und relativiert. Ein modernes Werk, das den Choristen alles abverlangte. Beginnend im Stile eines gregorianischen Chorals verändert sich die Musik hin zur gesprochener Sprache, unbarmherzig begleitet vom Zeittakt der Bässe. Dramatisch in Auf- und Abwärtsbewegungen sich steigernd, überbietend, um dann im Vado ergo die Glaubensgewissheit im Paradies zu erlangen.

Zu Recht gab es am Schluss stehende Ovationen für diese grandiose Leistung. Das ist sicher auch der Verdienst von Chorleiter Jochen Woll. Nicht nur sein lebendiges Dirigat, sondern auch die hilfreichen einleitenden Worte trugen zum inneren Verständnis bei.

Als Dreingabe ertönte ein altes, schlichtes italienisches Marienlied. In Erinnerung bleibt ein Chor, der in seiner hellwachen Präsenz, seiner außergewöhnlichen stimmlichen Ausdruckskraft und nicht zuletzt durch sein vielschichtiges Programm alle Anwesenden zutiefst bereicherte. Hartmut Schallenmüller