Kirchheim

„Wir sind dran“ - im doppelten Sinne

Vortrag Jobst Kraus, Nachhaltigkeitsbeauftragter des BUND, mahnt: Vieles muss sich ändern.

Bei der Eröffnung der Ausstellung zur Agenda 2010 in Kirchheim fordert Jobst Kraus ein gesellschaftliches Umdenken.Foto: Peter D
Bei der Eröffnung der Ausstellung zur Agenda 2030 in Kirchheim fordert Jobst Kraus ein gesellschaftliches Umdenken.Foto: Peter Dietrich

Kirchheim. „Wir sehen die Automobilgesellschaft als selbstverständlich“, sagte Jobst Kraus bei der Eröffnung der Ausstellung zur Agenda 2030 im Kirchheimer Rathaus. Doch das ist sie nicht. Derzeit habe Kirchheim etwas über 40 000 Einwohner und 9 000 Bäume, aber rund 28 000 Kraftfahrzeuge. „Wenn wir die Pariser Klimaziele und eine neue Mobilitätskultur erreichen wollen, dürften es nur 4 666 sein.“ Das ist ein Ergebnis der Studie „Mobiles Baden-Württemberg - Wege der Transformation zu einer nachhaltigen Mobilität“.

„Lese ich die aktuellen Forderungen aus dem Kirchheimer Zukunftsdialog“, sagt Jobst Kraus, „ist da noch viel Platz nach oben.“ Seine Stichworte: eine Sozialbauquote über 15 Prozent, bessere Radwege und Stellplätze, Gleichberechtigung der Verkehrsteilnehmer, mehr Insektenfreundlichkeit, Müllvermeidung und eine stärkere Beteiligung der Bürger.

Was macht es für eine engagierte Stadt schwierig, nachhaltig zu werden? „Wenn Berlin in Theaterdonner, Profilierungssucht und Tatenlosigkeit feststeckt, wenn der enge nationale Blick den weiten europäischen und globalen verdrängt und wenn es an den notwendigen politischen Rahmenbedingen fehlt, an dem Primat der Politik über die Automobil-, Finanz- und Internetindustrie.“ Die Nachhaltigkeitspolitik verlaufe im Schneckentempo. „Im Verkehrsbereich haben wir in den letzten 25 Jahren nur zwei Prozent eingespart, in den nächsten 25 Jahren müssten wir um 38 Prozent reduzieren.“

Der Klimawandel ist noch immer die größte Herausforderung, zu befürchten ist ein „irrer Meeresspiegelanstieg von sieben Metern“. Das bedeute eine Zunahme von Flüchtlingen. Das Artensterben nimmt gewaltig zu, auch in den Meeren, die immer mehr vermüllt werden.

Das „Wir sind dran“ verstand Jobst Kraus doppelt: „Es geht uns an den Kragen, und wir müssen handeln.“ Doch noch immer sehe er Reisebürowerbung für den unendlichen Urlaub. „Acht Prozent der Treibhausemissionen kommen durch den Ferientourismus.“ Eigentlich müsse für jedes neue Kohlekraftwerk in Ländern mit Strommangel eines im Westen abgeschaltet werden. „Manche Länder müssen noch wachsen, wir müssen schrumpfen.“

Dringend nötig sei eine Veränderung des Steuersystems: „Bisher haben wir hohe Lohnkosten, aber niedrige Ressourcenkosten, Dienstleistungen rechnen sich nicht.“ Jeder solle bei sich anfangen, die öffentliche Hand ihr großes Einkaufsvolumen zur Steuerung nutzen.

Ist das alles eine Illusion, oder rennt die Menschheit sehend in den Abgrund? „Im Kopf bin ich Pessimist“, sagt Jobst Kraus, und ergänzt: „Aber im Herzen bin ich Optimist.“Peter Dietrich