Kirchheim

Wissenschaftler entlarvt Mythen des „Neuro-Hypes“

Festvortrag von Felix Wichmann zum Jubiläum der Freihof-Realschule – Lehren und Lernen geht auch ohne Hirnforschung

Felix Wichmann (im Vordergrund).Foto: Thomas Kaltenecker
Felix Wichmann (im Vordergrund).Foto: Thomas Kaltenecker

Welche wichtigen Erkenntnisse können Lehrer aus der Hirnforschung ziehen? Professor Dr. Felix Wichmann gibt eine verblüffend ehrliche Antwort: keine.

Andreas Volz

Kirchheim. Populäre Mythen zu hinterfragen und zu entlarven – dieses Ziel hatte sich der renommierte Tübinger Neurowissenschaftler Felix Wichmann für seinen Vortrag beim Jubiläums-Festakt der Kirchheimer Freihof-Realschule gesetzt. Einer der Mythen besagt, dass die „Modewissenschaft des 21. Jahrhunderts“ helfen könne, das Leistungsvermögen des Gehirns zu verbessern. Schulnoten würden dadurch besser, und Karriereaussichten ergäben sich von ganz allein. Das hört sich gut an, wird aber ein Traum bleiben.

Der bedeutendste Mythos, den Felix Wichmann zerstören will, ist der, dass der Mensch nur ungefähr zehn Prozent seines Hirnpotenzials nutzt. Dieser Mythos werde häufig mit dem Hinweis auf die Autorität Albert Einsteins belegt. Felix Wichmann hält dagegen: „Es gibt keinerlei Hinweis, dass er das jemals gesagt hat.“ Auch inhaltlich wäre die Aussage unhaltbar: Der menschliche Körper leiste sich den „großen Luxus“, 20 Prozent des Sauerstoffs und 25 Prozent des Zuckers für ein ziemlich kleines und leichtes Organ wie das Hirn aufzuwenden. Folglich gelte für jeden: „Sie brauchen jede Ihrer Zellen. Wenn Ihnen jemand einen Kurs anbietet, um auch den Rest ihrer Zellen zu aktivieren, dann können Sie Ihren Geldbeutel getrost zu lassen.“

Was Prozentzahlen angeht, nannte Felix Wichmann die 70, denn selbst im Ruhezustand verbrauche das Gehirn 70 Prozent des Grundumsatzes: „Also braucht man auch schon fürs Chillen genügend Energie.“ Selbst für die größte Anstrengung sei nicht sehr viel mehr Energieaufwand nötig.

Ein weiterer Mythos sage, dass man durch „Brain Gym“ und „liegende Achten“ die beiden Gehirnhälften in besseren Einklang bringen könne. Nun wollte Felix Wichmann zwar nicht sagen, dass die liegende Acht völlig nutzlos ist. Die Übung könne manche Menschen tatsächlich zur Ruhe bringen. Aber auf die Synchronisation der Hirnhälften habe sie nicht die geringste Auswirkung.

Denn selbst die angeblich so großen Unterschiede zwischen den Hirnhälften entlarvte der Neurowissenschaftler als Mythos. Tatsächlich gebe es bei der Sprache gewisse Asymmetrien, aber der ganz große Gegensatz zwischen einer rational-logischen und einer kreativ-assoziativen Seite des Gehirns sei so nicht nachweisbar: „Es gibt keine Evidenz für unterschiedliche Kreativität der jeweiligen Hirnhälften.“ Das sei beim „Neuro-Hype“ eben einer der Hauptfehler: „Wir halten Kreativität für wichtig und suchen deshalb nach der entsprechenden Stelle im Hirn.“

Das Problem gelte aber grundlegend: „Die Hoffnung war lange Zeit, dass man den Hirnregionen direkte Funktionen zuordnen kann. Leider entspricht das nicht ganz den Fakten.“ Natürlich seien einzelne Informationen – Gedächtnisspuren oder Engramme – in einzelnen Neuronen gespeichert. Aber an jedem noch so kleinen Engramm seien rund tausend Neuronen beteiligt. Jedes Neuron sei „Teil unterschiedlicher Engramme“, und andererseits seien es immer ganz unterschiedliche Neuronen, die da zusammenarbeiten müssen, um eine einzelne Erinnerung abzurufen.

Selbst das funktioniere nicht wie bei einem Computer, wo eine bestimmte Datei einfach aufgerufen wird: „Im Gehirn kommt die Information nicht so raus, wie sie eingegeben wurde.“ Erinnern sei kein Abrufen, sondern ein ständiges „Rekreieren“. Eine Erinnerung werde stets neu erschaffen und neu zusammengebastelt. „Speichern“ sei also der falsche Begriff. Ohnehin lasse sich das Gehirn nicht mit einem Computer vergleichen. Es habe sich ja ganz anders entwickelt. Da gebe es sehr viele Inkonsequenzen im Aufbau, weil die Evolution einerseits voranschreitet, andererseits aber keinen Rückschritt macht. Weiterentwicklungen sind demnach An- und Umbauten. Ein Abriss mit folgendem Neubau ist evolutionär nicht möglich.

Was folgt nun aus dieser und den vielen anderen Erkenntnissen des Vortrags für die Schule? Allenfalls zwei praktische Nutzanwendungen: Lernen geht am besten durch ständiges Abrufen von Wissen. Das wäre ein Plädoyer für möglichst viele Tests. Die andere Nutzanwendung dagegen dürfte vor allem die Schüler freuen, denn sie kann als Ausrede dienen: „Es gibt auch Teilamnesien.“ Das bedeutet, dass sich manche Dinge manchen Menschen beim besten Willen nicht (mehr) beibringen lassen.

Ob die Einladung der Freihof-Realschule an Felix Wichmann nun gänzlich für die Katz war, muss jeder Zuhörer für sich selbst entscheiden. Auf jeden Fall war sein Vortrag der unterhaltsamste Teil des gesamten Festakts. Und die Lehrer erhielten die beruhigende Botschaft, dass sie keine neurologischen Fachbücher wälzen müssen: Psychologie, Pädagogik, Soziologie und Philosophie würden genügend Handreichungen zum Lehren und Lernen bieten.