Kirchheim

Die verdrängte Gewalt

Wenn Frauen Kinder und Jugendliche missbrauchen – Opfer finden Hilfe bei der Kompass-Fachberatungsstelle

Missbrauchsskandale erschüttern immer wieder die Öffentlichkeit. Fast immer ist in diesen Fällen von Männern als Tätern die Rede. Dass auch Frauen Kinder und Jugendliche missbrauchen ist für viele unvorstellbar.

Frauen üben zwar weit weniger Gewalt gegen Schutzbefohlene aus als Männer, doch auch sie überschreiten mitunter Grenzen. Die Fol
Frauen üben zwar weit weniger Gewalt gegen Schutzbefohlene aus als Männer, doch auch sie überschreiten mitunter Grenzen. Die Folgen für die Opfer bei Gewalt jedweder Form sind nicht minder traumatisch.Foto: Carsten Riedl

Kirchheim. Ist sexualisierte Gewalt eine reine Männerdomäne? „Nein“, sagt Angelika Schönwald-Hutt. „Dass diese Form der Gewalt auch von Frauen ausgehen kann, ist eine Vorstellung, die in der Öffentlichkeit noch immer auf Ungläubigkeit und Widerstand stößt.“ Fürsorge, Hingabe, Aufopferung, Friedfertigkeit – diese und andere positiv besetzten Eigenschaften sind in der Gesellschaft eng mit dem weiblichen Wesen verbunden. Dass Frauen wie Männer zu Täterinnen beziehungsweise Tätern werden können erscheint den meisten deshalb abwegig, wie die Leiterin von Kompass Kirchheim, einer psychologischen Fachberatungsstelle für Opfer sexualisierter Gewalt, erklärt.

Noch immer steht das Muttersein laut Katja Englert im Hinblick auf eine konstruktive kritische Betrachtung unter dem Schutz der Unantastbarkeit. Mütter scheinen perfekt zu sein. In dieser weit verbreiteten idealisierten Vorstellung gelingt ihnen mühelos der Spagat zwischen Familie und Beruf, während sie ihre eigenen Bedürfnisse – auch in sexueller Hinsicht – beiseitelegen. „In Erwägung zu ziehen, dass eine Mutter ihr Kind missbraucht, wird als inakzeptabel empfunden“, sagt die Gestalttherapeutin. Es steht ihr zufolge in einem so eklatanten Widerspruch zu den tief verinnerlichten Wertvorstellungen, dass eine Art Denk- und Wahrnehmungsverbot dafür zu sorgen scheint, unliebsame Erkenntnisse zu verdrängen.

In der Vergangenheit hat der Feminismus laut Angelika Schönwald-Hutt oft negiert, dass Frauen beispielsweise häusliche Gewalt gegenüber Männern ausüben, dass sie in Zeiten von Kriegen Grausamkeiten begehen oder Kinder und Jugendliche psychisch, aber auch physisch misshandeln oder eben sexuell missbrauchen. Gleichzeitig nimmt die integrative Kinder- und Jugendtherapeutin wahr, dass mit Blick auf Täterinnen eine Bagatellisierung des Missbrauchs stattfindet. Doch von Frauen ausgeübte sexualisierte Gewalt, wie grenzüberschreitendes Kuscheln, das Überschreiten der kindlichen Schamgrenze, das Waschen im Intimbereich im Jugendalter oder anale und vaginale Penetration mit dem Finger, sei für die Opfer genauso traumatisch, wie der Missbrauch durch einen Mann.

Frauen missbrauchen im Vergleich zu männlichen Tätern weder sanfter noch harmloser. Beziehungsprobleme, Essstörungen, Depressionen, Drogensucht, Suizidgedanken oder die Ausübung sexueller Gewalt gegenüber den eigenen Kindern im Erwachsenenalter – unabhängig vom Geschlecht des Peinigers –, sind für die Opfer die Spätfolgen der traumatischen Erfahrung immer die gleichen. In den meisten Fällen vergehen Jahre, bis Betroffene ihr Schweigen brechen und die Qualen, die sie durchlebt haben, offenbaren. Erich Utendorf verwundert das nicht: „Anders als der Missbrauch durch Männer, ist der durch Frauen schwieriger zu erkennen.“

Im Jahr 2015 zählte das Bundeskriminalamt 485 Straftaten, bei denen Frauen sexualisierte Gewalt an Kinder und Jugendlichen verübten. „Die Dunkelziffer dürfte aber deutlich höher ausfallen, denn die Grenzen zwischen mütterlich hingebungsvoller Liebe und sexualisierter Gewalt sind hier fließend“, so der analytische Kinder- und Jugendlichen-Therapeut. Häufig würden die Täterinnen selbst nicht erkennen, dass die Beziehung zu ihrem Sohn oder ihrer Tochter eine ungesunde Schieflage aufweist.

Die Betroffenen merken laut Utendorf zwar, dass die Berührungen und Handlung nicht im Rahmen des Tolerierbaren liegen, weil sie ihnen unangenehm sind. Doch schlussendlich können auch sie sich nur schwer eingestehen, dass ausgerechnet die wichtigste Vertrauensperson, ihnen Gewalt antut. „Gleichzeitig empfinden die Betroffenen Scham über das, was ihnen widerfährt und haben Angst davor, dass ihnen ihr Umfeld nicht glaubt“, sagt Katja Englert. Stiefmutter, Großmutter, Tante, Schwester, Bekannte – der sexuelle Übergriff muss nicht zwingend von der Mutter ausgeübt werden.

Vertrauen sich betroffene Kinder und Jugendliche Erziehern, Lehrern oder anderen Erwachsenen an, sollten diese die Schilderungen ernst nehmen. „Es ist wichtig sensibel zu reagieren und sich an eine entsprechende Fachberatungsstelle zu wenden“, betont Angelika Schönwald-Hutt. „Opfer die Hilfe benötigen können sich jederzeit persönlich, telefonisch oder per Mail an Kompass wenden.“