Was letztlich vernünftig ist, weiß keiner. Das ist die Quelle des Nichtwissens, aus der ständig mitmenschliche und zwischenstaatliche Probleme fließen. Und trotzdem bleibt nichts anderes übrig, als sich der Aufgabe zu stellen, vernünftig zu handeln. Das kann gelingen oder misslingen oder irgendwo dazwischen landen. Allerdings ist ein Handeln unter dem Anspruch der Vernunft nicht beliebig. Es steht unter der Forderung, ständig seine Begründungen, die es für sich maßgeblich werden lässt, an den Menschheitsideen der Sachlichkeit und der Menschlichkeit zu prüfen. Urteilen und Handeln des Menschen ist das Vermögen, das Besondere aus dem Allgemeinen abzuleiten.
Der Bau von Zäunen, die Abdichtung von Grenzen, mit Waffen auf Flüchtlinge zu schießen, entspringen nicht der Vernunft, sondern lösen Kettenreaktionen der Unvernunft aus, die die Aussichten auf vernünftigere Lösungen wegspülen. Vernunft ist der oberste Gerichtshof über Streitigkeiten, der immer wieder vom Einzelnen in ihm selbst gegen alle totalitären Anmaßungen einzusetzen ist. Darin bestand und besteht die Grundeinsicht der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die bis heute ihre Gültigkeit hat. Auf diesen Grundsatz haben sich alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union selbst verpflichtet.
Streitigkeiten unter Menschen und Staaten sind der Normalzustand. Der Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen muss immer wieder angestrebt werden. Wie oft haben die europäischen Staatschefs sich in der Finanzkrise zusammengesetzt. Wie erbärmlich ist bis heute das auf Europa bezogene Ergebnis angesichts der Flüchtlinge. Skandalisierendes Reden, Schreiben und Handeln führen in die Irre. Mäßigung in Wort und Tat ist das Gebot der Stunde. Das demokratische Europa als ein Ort des menschengemäßen Zusammenlebens, kann ideell und praktisch nur dann bestehen, wenn die Bürgerinnen und Bürger und die von ihnen beauftragten Politiker im Dialog bleiben, um am vernünftiger Begründeten orientiert zu handeln.
Dr. Henrik Westermann, Lenningen