Lokale Kultur

Mahnmale eingeschränkter Freiheit

Kai Wiedenhöfer präsentiert ausgewählte Fotografien seines Bildbandes „Confrontiers“ auf 364 Metern der Berliner Mauer

Mahnmale eingeschränkter Freiheit
Mahnmale eingeschränkter Freiheit

Berlin. Der in Kirchheim aufgewachsene Kai Wiedenhöfer erkannte schon früh, dass er eigentlich die emotionale Distanz nicht hat, die sein Beruf als Dokumentarfotograf erfordert. Genau das ermöglicht ihm

aber eine unglaubliche Nähe zu den von ihm fotografierten Menschen, die er nicht bloßstellt, sondern deren Schicksal, deren Leben und deren Leid er teilt und eindrucksvolle Bilder schafft, die oft Worte nicht mehr zulassen.

Überzeugt, dass das dafür erforderliche Vertrauen nur über Sprache zu gewinnen ist, lernte der 1967 in Schwenningen geborene Absolvent der renommierten Folkwang-Hochschule Essen-Ruhr schon früh in Deutschland Arabisch und vertiefte bei einem Auslandsstudium 1991 / 1992 in der syrischen Hauptstadt Damaskus seine für ihn überlebenswichtigen Sprachkenntnisse.

Unter dem euphorisierenden Einfluss des von ihm hautnah miterlebten und mit der Kamera festgehaltenen Mauerfalls in Berlin reiste er 1989 zum ersten Mal nach Jerusalem und an die Westbank. Mit einem alten Motorrad bewegte er sich 20 000 Kilometer entlang des palästinensischen Küstenstreifens in Gaza.

Mit den drei Löwen seiner wie ein Banner am Motorrad aufgezogenen Baden-Württemberg-Flagge weckt der ungewöhnliche Fremde anfangs schon von der Ferne Neugierde und Interesse. Auf Arabisch kommt er schnell mit den Menschen unterwegs und an den alles entscheidenden Kontrollstellen ins Gespräch – und auch rasch ins Gerede . . .

Wo immer er sich mit seiner Fotoausrüstung auch hinwagt, kennen ihn die Menschen schon. „Habib al-Schaab – Freund des Volkes“ wird der Deutsche im Gazastreifen genannt. Viele halten ihn für verrückt, andere schlicht für lebensmüde, dabei ist er nur besessen von den Aufgaben, die er sich selbst immer wieder stellt.

Er schließt unbezahlbare Freundschaften und lernt den Alltag im „Feindesland“ kennen. 2001 werden aus einem israelischen Bunker Warnschüsse auf ihn abgegeben. Drei Monate später gerät er in eine Schießerei unter Palästinensern.

Der aus vager Hoffnung einst Kraft schöpfende Chronist des palästinensischen Alltags in den israelisch besetzten Gebieten konzentriert sich –inzwischen reichlich desillusioniert – immer mehr auf die in aller Welt stehenden Gewaltakte aus Stahl und Beton. In seinem mit dem „World Press Award“ ausgezeichneten Buch „Wall“ hatte sich Kai Wiedenhöfer noch ganz auf den rund 700 Kilometer langen sogenannten „Anti-Terror-Zaun“ zwischen Israel und den palästinensisch besetzten Gebieten konzentriert. Kai Wiedenhöfer, dessen aufrüttelnde Dokumentar-Fotografien 2007 im Kirchheimer Kornhaus genauso selbstverständlich präsentiert wurden wie drei Jahre später im Museum für Moderne Kunst in Paris, zieht mit seinem neuen Buch „Confrontiers“ eine eindrucksvolle Bilanz seines bisherigen Schaffens. Seine „Vorabveröffentlichung“ ausgewählter Fotografien an der Berliner Mauer sorgt derzeit schon für enorme Aufmerksamkeit und die Auslieferung seines inzwischen schon vierten im Steidl Verlag in Göttingen herausgegebenen Bildbands wird mit großer Spannung erwartet.

„Confrontiers“ besticht nicht zuletzt durch ein außergewöhnliches Layout. Auf insgesamt 21 voller Unwägbarkeiten und unkalkulierbaren Risiken steckenden Reisen hat Kai Wiedenhöfer all das gesammelt, das in Berlin derzeit zu kontroversen Diskussionen führt, vor allem aber auch zum Nachdenken anregen soll. Für seinen aktuellen Bildband „Confrontiers“ hat er seit 2006 immer wieder an unterschiedlichen Orten in acht Grenzgebieten fotografiert: Bagdad (700 Kilometer), Süd-Korea und Nord-Korea (248), Cypern / Greenline (180), USA / Mexiko (3 141), Ceuta und Melilla, Spanien / Marokko (8 und 13 Kilometer), Israel / Palästinensische Gebiete (703) und Belfast / Peace Line (15).

Nicht fehlen darf da natürlich der durch eine friedliche Revolution ausgelöste Fall der Berliner Mauer – für Kai Wiedenhöfer zweifellos das bislang interessanteste politische Ereignis seines Lebens. Seine mit vielen anderen geteilten hochtrabenden Hoffnungen, nun in einer friedlichen Welt leben zu können, erwies sich freilich als Trugschluss und motivierte ihn zu der Ausstellung „Wall on Wall“ und dem Bildband „Confrontiers“.

Von den acht unterschiedlichsten Grenzsituationen berichtet Kai Wiedenhöfer in acht klar strukturierten Kapiteln mit wenigen Worten und umso vielsagenderen Bildern, die wie in einer Vorschau mit einem ganz schmalen horizontal begrenzten Ausschnitt im Bund des Buches beginnend sich – dank nach links und rechts aufklappbarer Seiten – zu nicht enden wollenden und doch immer von Grenzen dominierten Panoramen öffnen. Bei allem Entsetzen, das von all den grausamen Grenzanlagen überall in der Welt ausgeht, kann sich aber auch der leidenschaftliche Fotograf in ihm nicht völlig der inhärenten Ästhetik dieser von Menschen erdachten und doch so Menschen verachtenden Schreckensbauten entziehen.

Wer etwa nur kurz das Bild des „Friendship-Parks“ im mexikanischen Tijuana aus dem Jahr 2008 betrachtet, könnte die Szene als Strandidyll rund um eine modern wirkende Installation missdeuten – mit neugierigen Menschen auf der einen und Reitern auf der anderen Seite. Erst der zweite Blick macht deutlich, dass hier eine ganz besonders perfide Grenzsituation abgebildet ist – mit hilflos Gefangenen auf der einen und ihren berittenen Wärtern und einem Polizeifahrzeug auf der anderen Seite.

Werden schon im Buch mit eingeengten horizontalen Vorschaustreifen und den sich anschließend öffnenden Ausklapp-Panoramabildern Emotionen geschürt, schafft Kai Wiedenhöfer mit der aktuell in Berlin zu sehenden Vorab-Präsentation von ihm ausgewählter Aufnahmen eine ganz neue Dimension des Betrachtens, in der die Distanz zu dem Abgebildeten aufgehoben scheint.

Wer schon in vergangenen analogen Zeiten fotografierte, weiß, dass 9 x 13 Zentimeter ein gängiges Format für Papierbilder war und maximal 36 Aufnahmen auf eine Rolle im Kleinbildformat 24 x 36 Millimeter passen. Bei der Zahl der ausgewählten Fotografien seiner Ausstellung „Wall on Wall“ blieb der einstige Absolvent des Kirchheimer Ludwig-Uhland-Gymnasiums konsequent im herkömmlichen Drei-Dutzend-Raster herkömmlicher Filmpatronen.

Beim Format legte der weit gereiste Wahl-Berliner dagegen gewaltig zu. Moderne digitale Bearbeitungsmethoden und zwei analog arbeitende Großbildkamera-Raritäten mit einem Negativ-Format von eindrucksvollen 6 x 17 Zentimeter ermöglichen eine Größe der aufgezogenen Fotografien von stolzen 3 x 9 Metern – und passen damit genau bis unter die obere Abgrenzung der Berliner Mauer.

Damit beeindruckte Kai Wiedenhöfer nicht nur seine in Kirchheim lebende Mutter – die natürlich bei der offiziellen Eröffnung der spektakulären Ausstellung „Wall on Wall“ dabei war – sondern inzwischen schon Zehntausende von Besuchern, die täglich den Bereich um die berühmt gewordene „East Side Gallery“ geradezu fluten. Das Medieninteresse bei der Eröffnung war jedenfalls enorm. Nicht nur Berlin, sondern allein diese Ausstellung ist zweifellos eine Reise wert.

Noch bis zum 13. September 2013 sind die Bilder des mit drei der weltweit bedeutendsten Auszeichnungen und weiteren renommierten Preisen geehrten Fotografen aus Kirchheim zu sehen – 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche in der mit 364 Metern derzeit wohl längsten Freiluft-Galerie der Welt.

Mehr als 1 100 bunt bedruckte Quadratmeter an Fotobahnen bilden eine alle Dimensionen sprengende Ausstellung, die keine Grenzen zu kennen scheint – und sich doch mit nichts anderem als mit Grenzen befasst.

In „Perfect Peace“ (2002), „Wall“ (2007) und „The Book of Destruction“ (2010) konzentrierte sich Kai Wiedehöfer, der 1993 / 1994 zehn Monate im Gazastreifen gelebt hat, auf die Zerstörung und vor allem auf das menschliche Leid vor und hinter den Grenzmauern zwischen Israel und Palästina. In der „West-Side-Galery“ und im Buch „Confrontiers“ zeigt er in einer rastlosen Revue von Mauern, Wällen und Zäunen ratlos machende Grenzverläufe aus aller Welt. Grenzen, die auf den schaurigen Resten der Berliner Mauer und nicht „nur“ in den Köpfen beispielhaft demonstrieren, wie viele Konfliktpunkte es auf der Welt gibt für Probleme, die sich nun einmal nicht durch den verzweifelten Bau von immer mehr Mauern lösen lassen.

Manche Anlagen sind vergessen, andere wegen ihrer Abgelegenheit eher unbekannt. Das hat sich geändert, denn die fernen Grenzen sind mit der Ausstellung „Wall on Wall“ mitten in Berlin angekommen und durch ihre schiere Größe in ihrer Bedrohlichkeit fast schon körperlich zu erfahren.

Immerhin fünfeinhalb Jahre hat es gedauert, von der Idee und der ersten Präsentation im Ausschuss für Kultur und Bildung bis zum Testlauf, der im November 2012 erst noch den Beweis erbringen musste, dass die von Plakatier-Profis Bahn für Bahn passgenau aufgezogenen großformatigen fotografischen Albträume in rund sechs Wochen auch wieder spurlos verschwinden und „erfreulicheren“ Kunstaktionen Platz machen können.

Einen besseren Platz für die Verwirklichung seines Traumes als die Berliner Mauer hätte Kai Wiedenhöfer nicht finden können. Die Konfrontation mit Fragen, die die Ausstellung nicht abschließend beantworten kann und will, bestimmen auch die übrigen Bilder des Buchs „Confrontiers“. Gewidmet hat Kai Wiedenhöfer seine unermüdliche Arbeit den Menschen, die mit ihrer friedlichen Revolution den Weg bereitet haben für den lange Zeit nicht für möglich gehaltenen Fall der Berliner Mauer, der längst Geschichte, aber immer noch unglaublich ist. Wunder gibt es also doch, aber immer wieder?