Lokalsport

„Ich hätte auch in der Garage feiern können“

Das 200-Meter-Finale bei Olympia 2004 in Athen war die Initialzündung für die Karriere von Tobias Unger

Drückende Hitze, gellende Pfiffe und eine amerikanische Burgerschmiede, die 24 Stunden geöffnet hat – nur drei von unzähligen Erinnerungen, die Tobias Unger an die Olympiade 2004 in Athen knüpft. Dort war der Kirchheimer Sprinter als erster Deutscher seit 1984 wieder in ein 200-Meter-Finale gestürmt und legte als Siebter den Grundstein seiner bis heute andauernden Karriere.

Leichtathletik : Olympische Spiele Athen 2004 , Athen ,26.08.04 200m / Maenner Finale Frankie FREDERICKS / NAM (links), Tobias U
Leichtathletik : Olympische Spiele Athen 2004 , Athen ,26.08.04 200m / Maenner Finale Frankie FREDERICKS / NAM (links), Tobias UNGER / GER (ganz rechts hinten belegt Platz 7), vorne v.l.n.r. betend: Gold : Shawn CRAWFORD / USA , Silber : Bernard WILLIAMS / USA , Bronze : Justin GATLIN / USA Foto:BONGARTS/Alexander Hassenstein

Kirchheim. Medaillen, Preisgelder, Werbeverträge – Belohnungen für sportliche Heldentaten gibt es viele. Für Tobias Unger ist es in der Nacht vom 26. auf 27. August 2004 ein schlichtes FastFood-Gericht, das er sich wenige Stunden nach dem bis dato größten Erfolg seiner Karriere gönnt. Um 2 Uhr morgens pfeift sich der damals 25-Jährige eine Box Chicken Mc Nuggets rein. „Schlafen konnte ich eh nicht und der Mc Donalds im olympischen Dorf hatte ja 24 Stunden offen“, erinnert sich Unger knapp acht Jahre später mit einem Grinsen.

Schlaflos in Athen des Adrenalins wegen: Zu aufgewühlt war Unger nach einem 200-Meter-Finale, das gleich aus mehreren Gründen den Weg in die Olympiageschichtsbücher fand. Der damals noch für das LAZ Salamander Kornwestheim startende Schwabenpfeil war als erster Deutscher seit Ralf Lübke 1984 in Los Angeles wieder in einen olympischen 200-Meter-Endlauf gestürmt. „Da hatte ich mir vorher eigentlich gar keine Gedanken drüber gemacht“, sagt er heute, „im Finale selbst war ich eigentlich ziemlich locker, weil es keinerlei Erwartungen gab.“

Die Lockerheit wurde allerdings auf eine harte Probe gestellt. Und das nicht nur bei Unger. Die Finalteilnehmer mussten immer wieder aus den Startblöcken, nachdem die griechischen Zuschauer das Olympiastadion minutenlang mit gellenden Pfiffen überzogen und immer wieder „Hellas, Hellas“-Sprechchöre skandiert hatten. Hintergrund war die Affäre um den griechischen Sprinter Kostas Kenteris, der acht Tage vor dem Endlauf seinen Startverzicht bekannt gegeben hatte, um so einer Dopingsperre zuvorzukommen. Der 200-Meter-Olympiasieger von 2000 war ebenso wie seine Teamkollegin Ekatherini Thanou wiederholt nicht bei Dopingkontrollen erschienen und hatte dies unter anderem mit einem Motorradunfall begründet, den er und Thanou beim Verlassen des Olympischen Dorfes gehabt haben wollen. „Die werden ja nicht umsonst abgehauen sein“, sagt Tobias Unger, der die Reaktion des Publikums, das mit den Pfiffen mit ihrem vermeintlich größten Medaillenkandidaten Kenteris sympathisieren wollte, auch heute nicht nachvollziehen kann. „Wirklich gestört hat‘s mich nicht, ich fand es einfach nur unfair. Ein bisschen mehr Objektivität hätte ich von den Griechen dann doch erwartet.“

Die Erinnerungen an das groß(artig)e Event Olympia vermochte der „Skandallauf“, wie ihn Sportmedien hinterher tauften, bei Unger allerdings nicht trüben. „Ich habe es jedes Mal genossen, ins Stadion zu kommen und dort zu laufen“, resümiert er seine insgesamt fünf Auftritte im Einzel und mit der Staffel. „Du bist zwar auf deinen Lauf fokussiert, merkst aber irgendwie schon, dass da gerade 74 000 Zuschauer sind.“ Außer der gänsehautträchtigen Atmosphäre im Stadion ist Unger vor allem die angenehme Stimmung im und ums olympische Dorf im Gedächtnis geblieben. „Da gab‘s so manchen lustigen Abend auf dem Balkon. Es war ja so unglaublich heiß, dass man weit bis nach Mitternacht draußen sitzen konnte.“

Auch das 200-Meter-Finale war wegen der drückenden Hitze auf den späten Abend angesetzt. Um 22.50 Uhr fiel der Startschuss zu einem Rennen, das Unger auf der ungeliebten Bahn eins bestreiten musste – die Aussichten, im Konzert der übermächtigen Konkurrenz eine gute Zeit anzubieten, waren so noch geringer als ohnehin schon. Zumal auf Bahn zwei vor ihm keiner lief, da der Jamaikaner Asafa Powell auf einen Start verzichtet hatte. „Ich wusste, dass ab Bahn drei Zeiten unter 20 Sekunden gelaufen werden. Aber ich habe trotzdem mein Bestes gegeben“, sagt er, der in 20,64 Sekunden auf Platz sieben knapp eine Sekunde nach Olympiasieger Sawan Crawford (19,79) ins Ziel kam.

Für ihn selbst, seine Fans und die deutsche Leichtathletik war die Zeit ohnehin Nebensache. Die Tatsache, dass ein Sprinter mit dem Adler auf der Brust international wieder für Aufsehen sorgen kann, versetzte damals alle in Verzückung. Auch in Ungers damaligem Wohnort Wendlingen freuten sie sich über ihren Olympia-Helden so sehr, dass sie ihn nach der Rückkehr aus Athen im offenen Oldtimer durch die Stadt zu einem großen Empfang auf den Marktplatz fuhren. „Ich mag so großes Tamtam um meine Person eigentlich gar nicht so“, gibt Unger heute zu, „ich hätte auch in der Garage feiern können.“ Vielleicht klappt‘s damit ja dieses Jahr: Unger, für den die Athener Spiele den Anfang zu einer im Sprint beispiellosen Karriere markierten, steht bekanntlich im Aufgebot des DLV über 4 x 100 Meter in London.

Die 200 Meter bei Olympia in London finden ohne deutsche Beteiligung statt. Nach den Vorläufen am gestrigen Dienstag finden heute um 21.10 Uhr deutscher Zeit die Halbfinals statt, der Endlauf ist auf morgen Abend um 21.55 Uhr angesetzt.