Lokalsport

Ein Pakt mit der Schwerkraft

Sophia Müller aus Schlierbach und ihre Partnerin Janina Hiller sind die Titelhamster in der deutschen Sportakrobatik

Wo sie ist, ist oben – in jeder Hinsicht. 41 deutsche Meistertitel, Bronze bei der Junioren-EM 2007, Platz sechs bei der WM im Sommer in Polen. Was fehlt, ist eine internationale Medaille bei den Aktiven. Die hat Sophia Müller mit ihrer Partnerin Janina Hiller 2011 bei der EM in Bulgarien im Visier. Die 16-jährige Sportakrobatin aus Schlierbach lebt für ihren Sport, der so vieles abverlangt und doch ein Schattendasein führt.

Ein Pakt mit der Schwerkraft

Schlierbach. Das verflixte siebte Jahr haben sie längst hinter sich. Wie in jeder guten Partnerschaft ersetzt blindes Verständnis irgendwann lange Worte. Und wie in jeder langen Ehe wird Pragmatismus irgendwann zu einer Art Vitalfunktion. Meinungsverschiedenheiten, Gereiztheit – das alles gibt es. Doch nie bleibt etwas unausgeräumt. „Wir wissen, dass wir nur gemeinsam ans Ziel kommen“, sagt Sophia Müller, und das klingt logisch. Für solch simple Erkenntnisse geben Unternehmen satte Beträge aus. Teamgeist als Basis für Erfolg, diesen Grundsatz hat das ungleiche Paar auch ohne Business-Coaching verinnerlicht. Deshalb sammeln sie Titel wie andere Rabattmarken im Supermarkt. Seit zehn Jahren sind Sophia Müller und ihre sechs Jahre ältere Partnerin Janina Hiller ein eingespieltes Team in der Sportakrobatik. Das beste, das Deutschland derzeit zu bieten hat.

Ihre Erfolgsformel ist simpel: Langjährige Routine und Trainingsfleiß. „Das sind ihre größten Stärken“, sagt Landestrainer Todor Kolev, der beide Sportlerinnen im Leistungszentrum in Aalen betreut und sie dort auf das große Ziel im kommenden Jahr vorbereitet. Die Europameisterschaft im Oktober in seinem Heimatland Bulgarien könnte zum bisherigen Höhepunkt einer eindrucksvollen Karriere werden. Ziel ist eine Medaille – Es wäre die erste in der Elite nach Bronze bei der Junioren-EM vor drei Jahren in den Niederlanden. Ein kühner Plan, denn Deutschland gilt in der Sportakrobatik noch immer als Entwicklungsland. In einem knappen Dutzend konkurrierender Länder in Europa – allen voran die Staaten der ehemaligen Sowjet­union – genießen die Sportler anders als hierzulande längst Profistatus.

Im beschaulichen Albershausen ticken die Uhren anders. Dabei ist der TSGV mit seinen rund 1 300 Mitgliedern so etwas wie die Keimzelle der Sportakrobatik im Land. Seit den Anfängen 1950, als die Sportart noch Kunstkraftsport hieß, ging es auf der Erfolgsleiter steil nach oben. Heute ist die kleine Abteilung des Traditionsvereins regelmäßig Ausrichter von nationalen Titelkämpfen und eine der erfolgreichsten Talentschmieden in Deutschland. Von professionellen Strukturen ist man hierzulande dennoch Lichtjahre entfernt. Mag sein, dass sich dies ändert, würde die Sportart, wie seit Langem gefordert, irgendwann olympisch. Die Hoffnungen ruhen auf den Engländern, die als eine der führenden Nationen in der Sportakrobatik 2012 Gastgeber der Spiele sind.

Solange trainieren Sophia Müller und Janina Hiller den Großteil der Woche ohne Betreuer und auf eigene Faust daheim in Albershausen. Der Weltspitze sind sie dennoch seit Jahren dicht auf den Fersen. Platz sechs war es in diesem Jahr bei der WM in Polen. „Eine EM-Medaille im Oktober ist realistisch“, glaubt deshalb ihr Trainer Todor Kolev, der bei der Konkurrenz wachsenden Respekt vor dem Ehrgeiz der beiden Deutschen ausmacht. Und vor deren Ausdauer: Dass ein Paar zehn Wettkampfjahre gemeinsam durchsteht, ist eine Seltenheit. Selbst in einem Sport, in dem erarbeitetes Vertrauen in den Partner eine so wichtige Rolle spielt.

Eine lange Erfolgsgeschichte, die spätestens dann zu Ende gehen könnte, wenn sich Janina Hiller zwischen Sport und Broterwerb entscheiden muss. Die 22-Jährige aus Albershausen studiert Wirtschaftsrecht an der Fachhochschule in Geislingen und wird dies irgendwann zum Beruf machen. Sophia Hiller bereitet sich am Kirchheimer Ludwig-Uhland-Gymnasium aufs Abitur im übernächsten Jahr vor. Turbogymnasium und Leistungssport, das klingt wie die Quadratur des Kreises. Ihre Schulleistungen sind guter Durchschnitt, an den seltenen freien Wochenenden findet sie sogar Zeit, um Freundschaften zu pflegen. Sie weiß um deren Wert und dass sie mehr dafür tun muss als andere. „Das ist mir wichtig“, betont sie mit Nachdruck.

Die 16-Jährige ist eine Kämpfernatur, auch wenn man ihr das nicht unbedingt ansieht: 37 Kilo bringt sie auf die Waage, verteilt auf 158 Zentimeter Körpergröße. Das klingt kritisch. In der Sportakrobatik, wo die Schwerkraft der schärfste Gegner ist, nennt man es Wettbewerbsvorteil. Hungern für den Erfolg? Kein Thema. Naturell und tägliches Training regulieren das von alleine. „Ich esse reichlich und völlig normal“, versichert sie. Stress? Kein Problem, meint sie mit entwaffnendem Lächeln. Beim Blick in ihren Terminkalender kommen einem freilich Zweifel. Fünf freie Wochenenden, dazu eine Woche Strandurlaub in Spanien – mehr ging nicht in diesem Jahr. Trainings- oder wettkampffrei bedeutet zudem meist, von Halle zu Halle zu tingeln, um bei Show-Auftritten und Gala-Abenden für den Programm-Höhepunkt zu sorgen. Das sind gute Gelegenheiten, um sich nebenbei ein Taschengeld zu verdienen. „Ferienjob“, sagt Sophia Müller, „ist bei mir ja nicht drin.“

Anfang November waren sie bereits zum zweiten Mal bei Bohlen. Als „Supertalente“ bei RTL zeigten sie Ausschnitte ihres Programms einem Millionenpublikum vor dem Fernseher. Ihr Trainer findet das O.K., weil der Sport jede Werbung gut gebrauchen kann. Am Ludwig-Uhland-Gymnasium ist die Werbung angekommen. Dort kennt inzwischen jeder das zerbrechlich wirkende Mädchen mit dem festen Händedruck. „Viele meiner Freunde“, meint sie bescheiden, „wussten gar nicht, was genau ich eigentlich mache.“

Ein Pakt mit der Schwerkraft