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„Das Risiko, selbst depressiv zu werden, ist hoch“

Hartwig von Kutzschenbach beschreibt, wie belastend es für Menschen sein kann, ihre Angehörigen zu pflegen

Der Sozialpsychiatrische Dienst für alte Menschen (Sofa) unterhält im ganzen Landkreis Gruppen, in denen pflegende Angehörige Hilfe bekommen und sich austauschen können. Der Teckbote hat mit Hartwig von Kutzschenbach, dem Leiter von Sofa, gesprochen.

Hartwig von Kutzschenbach, Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes für alte Menschen SOFA im Landkreis
Hartwig von Kutzschenbach, Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes für alte Menschen SOFA im Landkreis

Herr von Kutzschenbach, die Zahl der Angehörigen, die ihre Verwandten zu Hause pflegen, geht immer mehr zurück. Welche Probleme schildern die Angehörigen?

Die meisten Menschen, die in die Gruppen kommen, sind Angehörige von Menschen mit einer Demenzerkrankung. Ihr größtes Problem ist es, zu begreifen, was die Krankheit aus ihren Angehörigen macht. Beispielsweise möchte der Demenzkranke nach Hause, obwohl er schon zu Hause ist. Er erzählt Dinge, die nicht stimmen können. Er erkennt nicht mehr, dass die Pflegende seine Ehefrau ist. Damit müssen die Angehörigen erst einmal umgehen. Der erste Schritt zu einem besseren Umgang ist das Verstehen der Krankheit. Dann begreift man, dass Menschen mit Demenz ihre eigene Logik haben. Dass man sich nicht angegriffen fühlen muss. Wenn man die Fähigkeiten seines Angehörigen besser einschätzen kann, dann kann man ihm auch wieder etwas zutrauen.

 

Die Pflege eines Menschen mit Demenz ist die eine Sache. Mit welchen Schwierigkeiten haben andere zu kämpfen?

Viele haben Familienmitglieder, die einen Schlaganfall oder eine Hirnblutung hatten. Bei Menschen mit Schlaganfall ist es ja häufig so, dass sich der Zustand noch einmal verbessert. Bei Menschen mit Hirnblutungen und –schädigungen ist die Pflege schwieriger, weil die Tagesform stark unterschiedlich sein kann. Diese Angehörigen sind davon geplagt, dass es ständig auf und ab geht. Die Hirngeschädigten können auch nicht mehr wirklich mithelfen. Der Transfer vom Bett in den Rollstuhl ist bei einem Menschen, der das nicht mehr versteht, sehr schwierig. Dann gibt es eine Gruppe von Pflegenden, deren Angehörige schwere Depressionen haben. Da geht’s dann darum: Wie bekomme ich den Menschen überhaupt aus dem Bett?

 

Wird man da als Pflegender nicht selbst depressiv?

Unter Umständen ja. Alle Pflegenden haben ein deutlich erhöhtes Risiko, depressiv zu werden. Es gibt Studien, die sagen, dass 30 Prozent der Pflegenden von Demenzpatienten Gefahr laufen, an einer Depression zu erkranken. Das hat viel mit Überforderung zu tun, mit schlechtem Gewissen. Bei Kindern, die ihre Eltern pflegen, ist oft die Botschaft im Ohr: Du bist für mein Wohl verantwortlich. Ehepartner nehmen ihr Eheversprechen sehr ernst und brauchen häufig Angehörigengruppen, um zu verstehen, dass sie ihrem Partner nicht mehr viel nützen werden, wenn sie irgendwann umkippen. Ein Teil der Arbeit in diesen Gruppen besteht darin, herauszufinden, was für beide eine zuträgliche Situation ist. Viele erleben den Kontakt ganz anders, wenn ihnen die Grundpflege abgenommen wird und sie ihren Partner im Heim besuchen können.

 

Was genau passiert in den Angehörigengruppen?

Die Teilnehmer tauschen sich untereinander aus, zum Beispiel über praktische Erfahrungen, Hilfsmittel oder das Geben von Mahlzeiten. Dazu kommen Tipps von Fachleuten. Die Angehörigen lernen, sich Hilfe zu holen. Sie erfahren, dass sie Betreuungsgruppen, Tagespflege, den häuslichen Beratungsdienst, Nachbarschaftshilfe und vieles andere in Anspruch nehmen können. Ganz wichtig ist, dass die Angehörigen sich Zeit für sich selbst nehmen. Sonst entwickelt man irgendwann Aggressionen auf den, um den man sich die ganze Zeit kümmern muss. Wer Freiräume hat, dem geht es selbst besser. Freizeit ist auch wichtig, um eine Depression oder ein Burn-out zu vermeiden.

 

An welchem Punkt entscheiden sich Angehörige, ihre Eltern oder Ehepartner ins Pflegeheim zu geben?

Sehr häufig bedarf es der Hilfe von außen. Wenn zum Beispiel ein Mensch ins Krankenhaus muss, dann kann es hilfreich sein, wenn der behandelnde Arzt sagt: Jetzt geht’s zu Hause nicht mehr. Oder man probiert es mit der Kurzzeit- oder Tagespflege und lernt auf diesem Weg: Es geht auch ohne mich. Mein Angehöriger merkt gar nicht, wie lange ich weg war. Und ich habe endlich wieder Zeit für mich. Häufig gehen pflegende Angehörige, die ja oft auch nicht mehr die Jüngsten sind, allerdings weit über ihre Belastungsgrenze hinaus. Der Zusammenbruch kommt bei vielen erst, wenn die Angehörigen im Heim sind.

 

Was ist schlimmer: Die Belastung, die die Pflege mit sich bringt, oder das schlechte Gewissen, weil man die Mutter oder den Ehepartner unter Umständen gegen ihren Willen ins Heim gegeben hat?

Beides ist schlimm. Es braucht häufig sehr lange, bis dieser Schritt gegangen wird. Die Erfahrung zeigt, dass Frauen länger brauchen, bis sie sich entscheiden, die Mutter oder den Ehepartner ins Heim zu geben. Dass dieser Schritt mit einem schlechten Gewissen verbunden ist, hat viel damit zu tun, welche Erfahrungen man früher gemacht hat. Gerade in der Generation, in der die Mütter sich allein um die Erziehung gekümmert haben, ist die Bindung an die Töchter sehr stark. Unterbewusst kommunizieren die Mütter den Töchtern, dass diese für ihr Seelenheil zuständig sind. Das umschifft man im Erwachsenenleben ganz gut, beispielsweise durch räumliche Distanz, aber dieses Gefühl der Zuständigkeit lebt wieder auf, wenn es um eine Pflegesituation geht. Da können sich Frauen oft wenig lösen. Männer neigen dazu, sich früher Entlastung zu holen.

Dazu kommt, dass es viele Vorur­teile in der nicht pflegenden Bevölkerung gibt. Es gehört immer noch zum guten Ton, die Eltern oder den Partner nicht ins Heim zu geben. Dabei ist die Formulierung „Abschieben ins Heim“ wirklich blödsinnig. Ich habe in meiner Berufslaufbahn schon Tausende von Angehörigen betreut. Bei einer Handvoll von ihnen würde ich im Rückblick sagen, dass sie es sich vielleicht ein bisschen zu leicht gemacht haben.

 

Die Gruppe für pflegende Angehörige trifft sich jeden dritten Dienstag im Monat von 14.30 bis 16 Uhr im Seniorenzentrum „Haus an der Lauter“ in der Schöllkopfstraße in Kirchheim. Die Teilnahme an den Treffen ist kostenlos, um Anmeldung unter der Nummer 0 70 21/50 23 34 wird gebeten.