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„Diese Kinder sind nicht böse. Was sie getan haben, ist böse.“

Ein Gespräch mit dem Pfarrer und Erziehungsberater Wilfried Veeser über die Kinder, die in Kirchheim Lämmer getötet haben

Der Fall der beiden acht- und neunjährigen Kinder, die auf dem Schafhof sieben Lämmer totgeschlagen haben sollen, hat in Kirchheim Entsetzen ausgelöst. Der Teckbote hat mit dem Pfarrer und Erziehungsberater Wilfried Veeser über mögliche Gründe für das Verhalten der Kinder gesprochen.

Herr Veeser, der Fall der beiden Kinder, die Lämmer getötet haben sollen, sorgt in Kirchheim aktuell für ziemlichen Wirbel. Die Bild-Zeitung druckt großformatige Fotos der Kinder ab. Manche fordern sogar, man sollte die beiden an den Pranger stellen. Können Sie das nachvollziehen?

WILFRIED VEESER: Nein. Inhaltlich ist das eine Methode des Mittelalters, und wir leben nicht mehr im Mittelalter. Kinder sind nicht einfach nur böse. Da sind vielmehr Dimensionen von Unwissenheit, Unerfahrenheit und mangelnder Orientierung im Spiel. Solche Forderungen finde ich nur schlimm, und sie tragen zur weiteren Verunsicherung der Eltern bei. Lernen und sich weiterentwickeln ist immer möglich, da kann man mit Erziehungsberatung und Therapie vieles bewirken. Solch ein öffentlicher Umgang mit dem Thema, wie ihn die Bild-Zeitung betreibt, nimmt billigend in Kauf, dass es zu nachhaltigen destruktiven Prägungen in Familien kommt.

 

Aber dennoch muss man fragen: Warum machen Kinder so etwas? Haben Kinder nicht eine natürliche Tierliebe?

VEESER: Da habe ich zwei Vermutungen. Acht oder Neunjährige spüren eigentlich, wenn andere Menschen oder Tiere Schmerzen empfinden. Entweder, die Kinder haben das noch nicht gelernt. Oder die Kinder wurden Filmen ausgesetzt, in denen Gewalt oder grausame Szenen vorkommen. Das überfordert die Seelen dieser Kinder. In diesem Alter können Kinder noch nicht vollständig zwischen Fiktion und Realität unterscheiden. Außerdem haben sie unter Umständen noch nicht gelernt, die Folgen ihres Handelns abzusehen. Dann kann es passieren, dass sie Szenen vor sich sehen, die sie nachspielen und in denen sie genauso grausam oder herrschsüchtig sein wollen wie die Filmfiguren. Das machen sie nicht aus berechnender Absicht, sondern aus einem Spieltrieb heraus. Meine Vermutung ist: Diese Kinder müssen in einer Art Spielmanie gewesen sein, in der sie nicht mehr unterscheiden konnten zwischen virtueller und realer Welt.

 

Kann man den Kindern dann überhaupt einen Vorwurf machen?

VEESER: Da muss man differenzieren. Zunächst: Diese Kinder sind nicht grausam oder böse im Sinne einer eigenständigen moralischen Entwicklung. Die geht ohnehin erst mit 13, 14, 15 Jahren los. Und erst recht werden diese Kinder nicht automatisch zu Amokläufern, weil sie Lämmer getötet haben. Was sie getan haben, ist grausam und böse. Und dieses Handeln kann eine ganze Reihe von Ursachen haben, die man jetzt herausfinden muss. Das Ganze kann auch eine Chance sein. Wenn man fachkundig mit den Kindern und den Eltern arbeitet, können die Kinder in eine ganz andere Spur kommen.

 

Wie viel Schuld trifft die Eltern?

VEESER: Man sollte den Eltern nicht pauschal einen Vorwurf machen, nach dem Motto: Grausames Verhalten der Kinder, grausame Eltern. In diesem Alter sind die Kinder vielen Einflüssen ausgesetzt, nicht nur dem der Eltern. Aber natürlich ist es ihre Verantwortung, beispielsweise den Medienkonsum zu kontrollieren.

 

Wie würden Sie als Vater reagieren, wenn ihr Kind so etwas tun würde?

VEESER: Ich würde ziemlich erschrecken. Allerdings kann man nie ausschließen, dass Kinder in irgendeiner Art von Spielmanie so etwas tun. Kleinere Kinder als moralische Wesen brauchen die Anleitung ihrer Eltern. Ich würde mir überlegen: Was habe ich versäumt? Was könnten wir als Eltern den Kindern zugemutet haben? Welche Hilfe brauchen wir? Wenn ich an der Stelle der Eltern wäre, würde ich jetzt Supervision und Hilfe in Anspruch nehmen, weil ich merken würde: Da ist etwas gelaufen, was außerhalb des Normalen ist. Ich wünsche jetzt vielen Eltern den Mut, rechtzeitig fachkundige Beratung einzuholen, wenn sie irgendwelche Entwicklungen beobachten. Da kann man erfahren, ob ein Verhalten noch normal ist oder nicht.

 

In der Bild-Zeitung war das Foto eines der Kinder abgedruckt, wie es mit einem Fastfood-Getränk in der Hand aus dem Auto seiner Eltern stieg. Viele fragen sich jetzt: Ist es richtig, so ein Kind auch noch zu belohnen?

VEESER: Es gibt zwei Ebenen. Die eine ist wahrscheinlich eine enorme Elternbetroffenheit, die andere ist die Betroffenheit der Kinder. Diese Kinder werden aktuell vermutlich stigmatisiert, von Mitschülern, Nachbarn. Sie werden gezeichnet als die Bösen. Ich kann nur empfehlen, dass die Eltern Hilfe in Anspruch nehmen. Wenn so etwas früher auf dem Bauernhof passiert wäre, hätte der Vater gesagt: So etwas machst du nicht noch mal. Das Kind hätte wahrscheinlich Schamgefühle entwickelt, aber nach kurzer Zeit wäre es vergessen gewesen. Dieses ‚An den Pranger stellen’, das aktuell geschieht, beschädigt die Kinder definitiv am meisten.