Lokales

„Leiharbeiter“ ist kein Berufswunsch

Kundgebung zum 1. Mai: „Menschen wünschen sich von Europa soziale Geborgenheit“

Rückblicke auf historische Ereignisse und Parallelen zur Gegenwart standen im Mittelpunkt der Maikundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) vor dem Kirchheimer Rathaus. Für die Zukunft forderten die Redner das Recht auf menschliche Würde, auf ein Leben in sicheren Verhältnissen sowie auf befriedigende Arbeitsbedingungen ein.

1. Mai Kundgebung DGB vor dem Kirchheimer Rathaus
1. Mai Kundgebung DGB vor dem Kirchheimer Rathaus

Andreas Volz

Kirchheim. Gerhard Wick, der neue Erste Bevollmächtigte der IG Metall Esslingen, war als Hauptredner am 1. Mai zu seinem Antrittsbesuch nach Kirchheim gekommen. Hundert Jahre nach Ausbruch des Ersten und 75 Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erinnerte er daran, dass das geeinte Europa die Kriegsgefahr gebannt zu haben scheint. Allerdings nannte er den aktuellen Konflikt in der Ukraine und fragte: „Kehrt die Kriegsgefahr zurück?“ Eindeutig bezog er dazu Stellung, gerade angesichts der historischen Verantwortung, die Deutschland zu tragen habe: „Nie wieder Faschimus, nie wieder Krieg!“

Die Europäische Union bezeichnete er als „das Beste, was Europa in seiner langen Geschichte voller Kriege passiert ist“. Das werde häufig vergessen, wenn gerade „ganz zu Recht über Demokratiedefizite, Rettungsschirme und soziale Ungerechtigkeit in Europa“ gelästert werde. Von überwundener Krise und neuem Vertrauen der Märkte würden die Menschen aber nichts mehr hören wollen, denn „die Rettungsschirme können noch so groß sein – verlorenes Vertrauen der Bürger bringen sie nicht zurück“.

Europa soll Gerhard Wick zufolge die Arbeitslosigkeit bekämpfen und den Menschen „die Angst vor Billigkonkurrenz und Lohndumping“ nehmen. Europa müsse „seine Bürger schützen und nicht nur Wirtschaftsgemeinschaft und Nutzgemeinschaft für die Industrie sein“. Es reiche nicht aus, eine europäische Friedensgemeinschaft zu sein. Auch die Reisefreiheit und ein Europa ohne Grenzen würden nicht ausreichen – „zumal, wenn einem das Geld für Reisen fehlt“. Soziale Geborgenheit sei das, was sich die Menschen von und in der Europäischen Union wünschen.

Der Konflikt verlaufe nicht zwischen Nord- und Südeuropa, stellte Gerhard Wick in Kirchheim fest. Er verlaufe vielmehr grenzüberschreitend – „zwischen den Profiteuren der Krise und den Leidtragenden, zwischen Verursachern und Opfern“. Die acht Millionen Beschäftigten im deutschen Niedriglohnsektor hätten viel gemeinsam mit den Jugendlichen in Spanien, Italien oder Griechenland, „die weder Ausbildungsplatz noch Arbeit finden“.

Die junge Generation brauche auch in Deutschland gut bezahlte, sozialversicherungspflichtige Arbeit, sagte Gerhard Wick: „Prekäre Beschäftigung und Niedriglohnsektor müssen eingedämmt und die Chancen auf möglichst durchgängige Erwerbsbiografien erhöht werden.“ Kein junger Mensch würde beispielsweise als Berufswunsch „Leiharbeiter“ angeben: „Die Beschäftigten wollen eine möglichst dauerhafte Beschäftigung bei einem Arbeitgeber.“ Das Mindeste aber, was den Leiharbeitern zustehe, sei „gleicher Lohn für gleiche Arbeit ab dem ersten Tag und der ersten Stunde“.

Inzwischen sei aber vielen Arbeitgebern selbst die Leiharbeit zu teuer geworden, weswegen sie auf Werkverträge umstellen. Auch hier stellte Gerhard Wick eine klare Forderung auf: „Werkverträge, die nur den Zweck haben, die bestehenden Tarife zu unterlaufen und Billigarbeit zu organisieren, gehören verboten.“

Auf die Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa sowie auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse war zuvor bereits Wolfgang Scholz, der Kirchheimer DGB-Ortsverbandsvorsitzende, eingegangen. Im Blick auf die Europawahl am 25. Mai sagte er: „Wir brauchen im Europäischen Parlament Abgeordnete, die sich einsetzen für sozialen Fortschritt, gegen die ungerechte Sparpolitik, gegen Arbeitslosigkeit und Armut, gegen Lohndumping und gegen Steuersenkungen für Millionäre. Wir brauchen ein Europa der Menschen. Die Macht der Konzerne muss zurückgedrängt werden.“

Zum Wählen rief er aber nicht nur für die Europawahl auf, sondern auch für die gleichzeitig stattfindenden Kommunalwahlen: „In der Kommune werden die maßgeblichen Entscheidungen getroffen, wie Arbeitnehmer leben und arbeiten. Um unsere Interessen deutlich zu machen, müssen wir uns auch in den Kommunalwahlkampf einmischen.“ Auch die Kommunen selbst stünden in der Verantwortung, „ihren Beschäftigten gute, nach Tarifvertrag bezahlte und dauerhafte Arbeitsplätze zu bieten, die diesen Beschäftigten ein menschenwürdiges Leben ermöglichen“.

Um menschenwürdigere Bedingungen sei es vor 225 Jahren in der Französischen Revolution gegangen. Am hundertsten Jahrestag des Ausbruchs der Revolution sei der 1. Mai zum internationalen Kampftag der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung ausgerufen worden, und seit 1890 werde der Tag der Arbeit als solcher begangen, stellte Wolfgang Scholz fest. Außerdem erinnerte er an die Erhebung der Bauern im Herzogtum Württemberg vor 500 Jahren. Der „Arme Konrad“ sei 1514 zunächst „eine Gruppe von Unzufriedenen“ gewesen, die schon bald eine Bedrohung der bestehenden Herrschafts- und Gesellschaftsordnung dargestellt habe, und zwar „durch die Verbindung von bäuerlichem und städtischem Protest“ und durch die räumliche Ausdehnung der Bewegung.

An ähnliche Bewegungen erinnerte zum Abschluss der Kundgebung Umut Bodur, der für den Verein Türkisches Volkshaus sprach: Es sei an der Zeit, sich gegen Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu wehren, ob es sich dabei um Werkschließungen bei Opel in Bochum handle oder um die Machtpolitik Erdogans in der Türkei. Umut Bodur konstatierte: „Wir werden nicht länger schweigen.“