Lokales

Landkreis zieht die Notbremse

Ab 15. Oktober will Landrat Heinz Eininger keine neuen Flüchtlinge mehr aufnehmen

Mit einem Brief an die Inte-grationsministerin Bilkay Öney zieht Landrat Heinz Eininger die Reißleine. Weil der Landkreis Esslingen derzeit keine Möglichkeit sieht, weitere Asylbewerber unterzubringen, sollen nach dem 15. Oktober keine neuen Flüchtlinge mehr aufgenommen werden.

Staatliche Flüchtlingsunterkunft Charlottenstrasse, Asylantenheim - FlüchtlingeAsylbewohnerheim

Kreis Esslingen. Geht es nach dem Willen des Kreisverwaltungschefs, sollen Busse aus dem Erstaufnahmelager in Karlsruhe den Landkreis von Mitte Oktober an vorerst nicht mehr ansteuern. Als Stichtag für den vorläufigen Aufnahmestopp nennt Landrat Heinz Eininger den 15. Oktober. „Der Landkreis wird ab diesem Tag bis auf Weiteres keine neuen Asylbewerber aufnehmen. Die Zuweisung weiterer Personen ist mangels tatsächlicher Aufnahmemöglichkeiten ab diesem Zeitpunkt zu unterlassen“, heißt es in einem Brief an die Integrationsministerin in Stuttgart. Im Oktober stünden nur noch 60 Plätze zur Verfügung, so Eininger. Für vier Standorte seien bereits Anträge auf Baugenehmigung gestellt, für vier weitere Projekte führe der Landkreis Vorverhandlungen. Insgesamt hätten die acht Vorhaben eine Gesamtkapazität von 650 Plätzen. Im besten Fall könnten die ersten Standorte von Mitte 2015 an, die weiteren bis Ende kommenden Jahres zur Verfügung gestellt werden.

Bei der gestrigen Einbringung des Haushalts wich Eininger aus aktuellem Anlass von seinem Redemanuskript ab und nutzte die Gelegenheit, um eine Erklärung abzugeben. „Der Landkreis will die humanitäre Aufgabe der Flüchtlingsunterbringung gut erfüllen und den oft traumatisierten Menschen helfen.“ Es gehe aber nicht mehr, als das, was der Landkreis bisher geschaffen habe. Aktuell existieren im Landkreis 35 Gemeinschaftsunterkünfte in 18 Kommunen mit 1 355 Plätzen. Nach derzeitigen Prognosen müsste der Landkreis bis Jahresende für 1 900 Flüchtlinge eine Unterkunft zur Verfügung stellen. Bis Ende 2015 sei mit 3 500 unterzubringenden Asylbewerbern zu rechnen.

„Wir brauchen Zeit. Das Thema bewegt uns massiv“, so der Landrat. Der Flüchtlingszustrom bringe den Kreis an die Grenzen des Machbaren. „Zelte und Feldbetten in kommunalen beschlagnahmten Räumen sind keine Lösung“. Eininger kritisierte, dass der sogenannte Königsteiner Schlüssel festlege, welchen Anteil an Asylbewerbern jedes Bundesland aufnehmen muss. Eigentlich wird dieser Schlüssel verwendet, um die Beteiligung einzelner Bundesländer an gemeinsamen Finanzierungen festzuzurren. Wiederholt äußerte der Landrat sein Unverständnis darüber, dass leer stehende Kasernen im ländlichen Raum nicht genutzt werden. Tags zuvor habe er nun bereits zum dritten Mal in einer Bürgermeisterversammlung um Unterstützung gebeten und von den Rathauschefs gefordert, bis 1. Dezember Unterkünfte zu benennen. „Es geht mir nicht darum, uns der Aufgabe zu verweigern, sondern es geht darum, Zeit zu gewinnen, um gute Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen“, sagte Eininger.

In einem Statement äußerte Ministerin Öney zwar Verständnis für die schwierige Situation im Landkreis Esslingen. Dies werde auch auf dem Flüchtlingsgipfel ein Thema sein. „Ein totaler Aufnahmestopp ist aber keine Lösung. Denn auch das Land muss die Flüchtlinge aufnehmen, die ihm nach dem Königsteiner Schlüssel zugeteilt werden. Wir brauchen daher im Land noch mehr Solidarität zwischen Kreisen, Städten und Gemeinden“, so der Appell der Ministerin. Gemeinsam könne eine solidarische Lösung erarbeitet werden. Dazu brauche es auch die Vorschläge der Kreise.

Auch im Kreistag stieß Eininger mit seinem Brief nicht auf ungeteilte Zustimmung. SPD-Fraktionschefin Sonja Spohn äußerte ihr Befremden. „Wir haben Ihr Schreiben als Armutszeugnis und Bankrotterklärung wahrgenommen.“ Bei den Kommunen gebe es viele weiße Flecken, sprich Städte und Gemeinden, die derzeit noch keine Asylbewerber aufnähmen. „Wir sind auf Ihrer Seite, wenn es darum geht, Wege zu finden“, sagte die SPD-Fraktionsvorsitzende an Eininger gewandt. „Aber so geht es nicht.“

In einem gemeinsamen Brief an Heinz Eininger kritisieren die drei Landtagsabgeordneten Andrea Lindlohr, Andreas Schwarz (Grüne) und Wolfgang Drexler (SPD) das Vorgehen des Landrats ebenfalls scharf. „Ein solches in die Öffentlichkeit getragenes Eskalationsszenario hilft niemandem.“ Angesichts der gesamtgesellschaftlichen Herausforderung, Flüchtlinge in Deutschland und im Landkreis Esslingen aufzunehmen, sei dies vollkommen inakzeptabel. Sie fordern den Kreischef auf, Flüchtlinge auch im Landkreis gut unterzubringen. Deutschland müsse Flüchtlingen Schutz und Obhut gewähren. Wenn Eininger andere Stadt- und Landkreise unter Druck setze, die Aufgaben des Landkreises Esslingen mit zu übernehmen, könne dies die kooperative Stimmung im Land verschlechtern. Gemutmaßt wird in dem Brief auch, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Landkreis und den kreiseigenen Gemeinden schlechter zu sein scheine als in vergleichbaren Kreisen im Ballungsraum. So hätten sie mitbekommen, dass dem Landkreis bereits vor geraumer Zeit Grundstücke angeboten worden seien. Da sie dies nicht selbst überprüfen könnten, bitten sie den Landrat um Aufklärung.

Bloß nicht vor meiner Tür

Wer in letzter Zeit in Kirchheim und Umgebung auf Wohnungssuche gewesen ist, kann ein Lied davon singen: Die Schlange der Bewerber ist lang, das Angebot oft dürftig. Wer nicht über das nötige Kleingeld oder einen entsprechenden Lebenslauf verfügt, hat es noch schwerer. Und wenn der Bewerber dann auch noch eine Wohnung für Asylbewerber anmieten will, schlagen viele Vermieter gleich die Tür vor der Nase zu. Was sollen denn die Nachbarn sagen!

Diese Erfahrungen sind es unter anderem, die Landrat Heinz Eininger zu einer drastischen Aktion getrieben haben. Ab 15. Oktober will er die Flüchtlinge, die ihm das Land in den Kreis Esslingen schickt, nicht mehr aufnehmen. Die Begründung: Es gibt schlicht keinen Platz, um die Asylbewerber menschenwürdig unterzubringen. Wer die Sporthalle in Esslingen-Zell, die der Landkreis in seiner Verzweiflung zu einer Flüchtlingsunterkunft umgebaut hat, schon einmal von ihnen gesehen hat, glaubt ihm.

Ob das Land ab nächster Woche tatsächlich keine Flüchtlinge mehr in den Landkreis schickt, kann bezweifelt werden. Aber der Landrat hat mit seinem Hilferuf jenen Forderungen Nachdruck verliehen, die schon länger bestehen, aber bisher nicht berücksichtigt worden sind: Mehr Geld pro Flüchtling, schnellere Asylverfahren und eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge auf die Landkreise. Schließlich ist nicht einzusehen, wieso ein derart verdichteter Kreis wie der Landkreis Esslingen eine vielfach höhere Zahl an Flüchtlingen aufnehmen muss, als jene in dünner besiedelten Regionen, die über viel mehr frei stehende Häuser und Wohnungen verfügen.

Eine gerechtere Verteilung muss es aber auch innerhalb des Landkreises geben. Es kann nicht sein, dass Städte wie Kirchheim die Hauptlast tragen und andere Kommunen sich fein raushalten, ganz nach dem Motto: Bloß nicht vor meiner Haustür.ANTJE DÖRR