Lokale Kultur

Das Theaterwunder von der Alb

Uwe Zellmer und Bernhard Hurm auf Einladung des Literaturbeirats zu Gast in der Stadtbücherei

Kirchheim. Randvoll besetzt war das Erdgeschoss der Stadtbücherei zur Matinee. Auf dem Podium saßen, eingeladen vom Literaturbeirat,

mit Uwe Zellmer und Bernhard Hurm Prominente, die man nicht nur vom Theater, sondern auch von Fernsehauftritten und von Filmen her kennt. Das war nicht immer so. Von der Geschichte des Lindenhoftheaters in Melchingen erzählt der autobiografische Roman „Himmelsberg, Engelswies“ von Uwe Zellmer. Der Autor las Textausschnitte. Bernhard Hurm, Schauspieler und Intendant des Melchinger Theaters rezitierte Gedichte.

Wie konnte man bloß auf die Idee kommen, in einem entlegenen Nest auf der Alb ein Theater zu gründen? Um ein solches Wagnis einzugehen, mussten sich zwei Theaterfanatiker treffen. Ausgerechnet in einer Reutlinger Schule: „Ein junger linker Lehrer. Ein junger linker Schüler. Die Vitalität, schwäbische Sturheit auch, einen Haufen Visionen sich draufzutun“. Uwe Zellmer erzählt von den Anfängen und dem Wachstum des Theaters. Er verschlüsselt dabei die Namen der Protagonisten, er selbst heißt jetzt „Philipp Heim“, Bernhard Hurm wird zu „Hans Holder“, Ida Ott zu „Anna“ und Dietlind Elsässer, die soeben auch eine Autobiografie he­rausgebracht hat, zu „Elsa“.

Der Autor beginnt seinen Roman mit einer Beschreibung von „Deutschlands seltsamstem Theaterort“ Melchingen mit der spärlichen Infrastruktur, aber immerhin einem Theatersaal für 100 Personen und einem „Großen Haus“ für 200 Personen. Anschließend erzählt er nicht brav der zeitlichen Reihenfolge nach, sondern nimmt Feste, Preisverleihungen oder andere Gelegenheiten zum Anlass, Philipp Heim gedanklich Rückblicke machen zu lassen. Seine Kindheit taucht auf: „Er stammte aus einer märkisch-pommerschen Familie mit berlinerischen Wurzeln und war auf der Schwäbischen Alb geboren, im Industriestädtchen Heidenheim, im zweiten Winter nach dem Krieg. Von ostelbisch nach ostälbisch, so sagen die Spötter“. Schon mit zwölf Jahren beginnt er Schiller zu lesen, spielt aber auch in einer Jugendauswahl Fußball. Er wird Lehrer mit den Fächern Deutsch und Sport in Reutlingen. Dort geschieht die epochale Begegnung von Lehrer Zellmer und Schüler Hurm.

Die Anfangszeit ab 1981 in Melchingen war gekennzeichnet durch Vorbehalte der Dorfbevölkerung, aber auch von prominenten Unterstützern wie Peter Härtling, Walter Jens und Felix Huby. Doch die Unternehmung steht auf der Kippe, weil sie finanziert werden muss. Ein Kredit der Landesbank bedeutet die Rettung. Nun wächst sich das Dorftheater zum Regionaltheater aus, zeigt in Balingen, Bietigheim, Nürtingen und anderswo aufsehenerregende Inszenierungen. Obwohl es einen unbestechlichen, kritischen Volkstheaterstil pflegt, gewinnt es auch die Sympathie konventioneller Kreise wie die von Erwin Teufel und, intensiv und früh, vom „schwarzen Wolf“, eben dem in jüngster Zeit gekürten Oppositionsführer im Landtag. Uwe Zellmer las vor allem Passagen aus dem ersten Teil des Buchs. Besonders eindrücklich ist die Schilderung eines Besuchs beim dementen Walter Jens. Neben der Theaterarbeit hat auch der Lebensgenuss noch Platz. Gemeinsame Sommerreisen nach Frankreich mit guter Küche und erlesenen Weinen werden unternommen. Doch der Theatererfolg hat seinen Preis. Zellmer möchte das letzte Kapitel „Alles ausm Lot“ nicht vorlesen, um die Veranstaltung nicht in gedrückter Stimmung enden zu lassen: die Theaterleidenschaft kostet private Beziehungen.

Zellmer und Hurm verbindet nicht nur eine lebenslange Freundschaft, sondern auch eine gemeinsame Bühnenpraxis, zum Beispiel in tatsächlich Tausenden von Auftritten mit von Thaddäus Troll inspirierten Sketchen unter dem Sammeltitel „Kenner trinken Württemberger“. Sie sind aufeinander eingespielt. Sie vermögen zu improvisieren und selbstironisch das Leseritual aufzusprengen. Dies und die Ausflüge ins Schwäbische, vorzugsweise bei Gedichten von Sebastian Blau, genossen die Zuhörer. Doch Bernhard Hurm kann auch Schriftdeutsch. In willkommener Abwechslung zu den Prosatexten bot er Gedichte, die thematisch oder atmosphärisch zu den Prosatexten passten, vorzugsweise von Hölderlin oder Mörike, aber auch von Schiller und anderen.

Wenn Zellmer von einer Liebesnacht zu dritt in Bad Kissingen berichtet, so hat Hurm Liebesgedichte von Hölderlin und Brecht parat. Wenn Zellmer den Schluss nicht liest, so rezitiert er Hölderlins „Die Eichbäume“, die zur Selbstbestimmung aufrufen. Hurm bewies einmal mehr, dass er ein textsicherer begnadeter Rezitator ist. Jeder Text scheint bei ihm eine von innen kommende, von Mimik und Gestik unterstrichene Botschaft zu sein.

Die beiden routinierten Lindenhöfler kamen beim heiter gestimmten Publikum gut an. Das zeigte sich auch im großen Interesse am Kauf von Zellmers Theater- und Lebensrückblick.