Lokale Kultur

Dichterfürst als Kompass des Lebens

„Die Kunst zu leben“ – Ein Goethe-Abend mit Helga Klaiber im Oberlenninger Schlössle

Lenningen. Wenn die Bücherei Len­ningen und der Förderkreis Schlössle dieses Jahr das 20-jährige Bestehen des Oberlenninger Schlössles feiern, so dürfen die Stuttgarter Schauspie-

lerin Helga Klaiber und ihr musikalischer Begleiter Alexander Reitenbach im Programm nicht fehlen. Seit vielen Jahren erfreut Helga Klaiber das Lenninger Publikum mit ihren anspruchsvollen Literaturabenden beispielsweise zur Droste, zu Mörike, Hölderlin oder Rilke.

Bei all diesen selbst erarbeiteten Programmen überrascht Helga Klaiber immer mit ihrem persönlichen Blick auf die Dichtergestalten, der aber seine Erkenntnisse stets aus dem jeweiligen Werk bezieht und der durch die Literaturwissenschaft abgesichert wird. Zudem ist Helga Klaiber als Schauspielerin eine ganz hervorragende Rezitatorin, sodass es ihr immer gelungen ist, die Dichtergestalten nicht nur für den einen Abend lebendig werden zu lassen. Diesen Nachhall herzustellen ist geistige Nachhaltigkeit im besten Sinne des Wortes.

Heuer nun also Goethe, ein Goethe allerdings, wie man ihn weniger kennt. Nicht der große klassische Titan, nicht der Dichterfürst und das Originalgenie Goethe oder der „olympische Glücksmensch“ und was der Goethe-Kult unterschiedlicher Zeiten noch alles an Attributen hervorgebracht hat, sondern eine Annäherung an einen verletzlichen, kränkelnden und zurückgezogenen, aber auch hilfsbereiten Goethe, der er auch war.

Das Publikum bekam aber auch einen Goethe geboten, der trotz oder gar wegen seiner überwundenen Schwächen auch dem Menschen des 21. Jahrhunderts noch viel zu sagen hat, dessen Leben und Werk gar Handreichungen zur Lebensbewältigung zur Seite stellen kann: „Was jeder Tag will? Sollst du fragen, / Was jeder will wird er sagen! / Mußt dich am eignen Tun ergötzen, /Was Andre tun, das wirst du schätzen, / Besonders keinen Menschen hassen, / Und das Übrige Gott überlassen.“ (aus „Zahme Xenien“ 1828). Diese Forderung des Tages zu erfüllen und dabei zu erleben, wie sie zur heilenden Kraft werden kann, das sei, so Helga Klaiber, eine Grunderfahrung in Goethes Leben. Wenn Goethe „zum Kompaß des Lebens“, so der Goethe-Kenner Anton Kippenberg, werden soll, so müsse man ihn auch lesen und nicht nur zitieren. „Goethe ist kein Allheilmittel, aber er kann uns Orientierung geben“, meint die Schauspielerin. Mit zahlreichen Episoden aus Goethes Biografie, Zeugnissen von Zeitgenossen sowie Zitaten aus seinen Schriften und Briefen ist es Helga Klaiber gelungen, ein Bild von Goethes Leben zu zeichnen, das geprägt war von Gegensätzen: von Mühsal und Arbeit, von Selbstdisziplin und Selbstüberwindung und täglich neuem Kampf, aber auch von Lebensgenuss und Lebensfreude. Geprägt von zahlreichen, oft lebensbedrohlichen Krankheiten seit seiner Kindheit, hat Goethe diese Bedrohungen als wertvolle Lebenserfahrungen gesehen, aus denen er seine „Lebenskunst der Gemütsbildung“ (aus: Dichtung und Wahrheit“) gewinnen konnte. Ganz praktisch äußerte sich dies in Bewegung in frischer Luft und sportlicher Betätigung.

Trotz gigantischem Ar­beitspensum als Minister und Dichter, der auch noch Sammler und Naturwissenschaftler war, machte er täglich Spaziergänge von ein bis zwei Stunden. Auch gehörte es ganz zentral zu Goethe, alte Lasten abzuwerfen und Neues zu beginnen. Wer dieses „stirb und werde“ nicht hat, nennt er einen „trüben Gast auf der dunklen Erde“! „Das Lebendge will ich preisen, / Das nach Flammentod sich sehnet.“ („Selige Sehnsucht“).

Aufs Wundervollste musikalisch fortgeführt und vertieft wurden die Ausführungen zu Goethes Leben und Werk und die Rezitationen durch äußerst geschickt in das Programm eingewobene Klavierstücke durch den jungen Stuttgarter Pianisten Alexander Reitenbach, der Klaibers Literaturabende seit Jahren bereichert. Neben Beethovens zweitem Satz aus der Pathetique-Sonate (op. 23) waren die Zuhörer ganz verzaubert worden, beispielsweise durch die Interpretation eines Auszugs aus Schumanns „Widmung“, von Liszt gesetzt für Klavier. Kammermusik also, wie geschaffen für den kleinen, dicht belegten Raum der Bücherei, der an dem Abend zum literarischen Salon wurde. Beide Künstler wurden am Ende durch einen lang anhaltenden Beifall belohnt. Ev Dörsam, Leiterin der Bücherei Lenningen, bekräftigte den Wunsch auf eine baldige Wiederkehr des Duos. Angekündigt wurde ein Programm zur Freundschaft zwischen Lessing und Moses Mendelssohn, das im November bereits im Stuttgarter Renitenztheater zu hören sein wird.