Lokales

Rathäuser zu GrünflächenKommentar

Die moderne Architektur hat es nicht leicht: Sie soll funktional sein und auf dem neu­es­ten energetischen Stand. Außerdem will sie ihren eigenen Ausdruck finden und mit ihrer eigenen Formensprache wahrgenommen werden. Geliebt aber wird sie nicht – allenfalls von den Vertretern der Avantgarde. Als Grund, warum seit der Eröffnung der S-Bahn-Linie nach Kirchheim so viele Tagestouristen in die Stadt kommen und voller Begeis- ­terung wieder gehen, dürfte wohl kaum ein Gebäude aus dem 20. Jahrhundert angeführt werden. Nur die Ensemblewirkung der Fachwerkhäuser aus dem frühen 18. Jahrhundert macht die Stadt so attraktiv.

Gebäude, die diese Ensemblewirkung stören, werden gemeinhin als „Bausünden“ bezeichnet. Auch die wortreichsten Erklärungen heutiger Architekten erreichen das Volk hier nicht. Die reine Funktionalität mag vielleicht den Kopf ansprechen, aber nicht das Herz. Ein altes Gebäude ist ein Wert an sich, der sich nicht in materielle Werte umrechnen lässt. Aus diesem Grund wäre das Jesinger Rathaus eigentlich zu erhalten. Andererseits aber kann die Stadt, die ausschließlich mit öffentlichen Geldern umgeht, nicht jedes alte Gebäude sanieren – koste es, was es wolle. Deshalb spricht die wirtschaftliche Vernunft ganz klar für den Neubau.

Was sich leider nicht abzeichnet, ist eine Kompromisslösung – höchstens eine nicht ganz ernst gemeinte. Der Vergleich mit der Bruckmühle, der in der Diskussion angeklungen ist, mag die Vorlage dazu geben: Anstatt der Bruckmühle könnte ja das Jesinger Rathaus abgerissen und zur Grünfläche am erlebbar gemachten Wasserlauf umgewidmet werden. Die Ortschaftsverwaltung zieht dann dauerhaft in das Gebäude, das als Übergangslösung während der Bauphase vorgesehen ist – und dort, wo seit über 500 Jahren das Rathaus steht, gibt es eine multifunktionale soziokulturelle Begegnungsstätte im Freien. Das spart sowohl Baukosten als auch Folgekosten und wäre auch energetisch ideal.ANDREAS VOLZ