Lokales

Viel Luft nach oben in Sachen Inklusion

Landes-Behindertenbeauftragter Gerd Weimer spricht bei Schlossgala über Wunsch und Wirklichkeit

Seit die Bundesregierung die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention beschlossen hat, steht die Teilhabe von Menschen mit Handicap ganz oben auf der Agenda von Verwaltungen und Politik. Anlass für den Verein „Diakonie und Gemeinde“, im Rahmen der alljährlichen Schlossgala genauer hinzuschauen, wie es in Sachen Inklusion bestellt ist im Land.

Mehr Inklusion in der Arbeitswelt forderte Landesbehindertenbeauftragter Gerd Weimer.Foto: Markus Brändli
Mehr Inklusion in der Arbeitswelt forderte Landesbehindertenbeauftragter Gerd Weimer.Foto: Markus Brändli

Nicole Mohn

Kirchheim. In ihrem 16-jährigen Bestehen ist die Veranstaltung von „Diakonie und Gemeinde“ zu einer festen Größe im Kirchheimer Veranstaltungskalender geworden. Nur einmal, sagt Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker, habe sie den Termin ausfallen lassen müssen. „Für mich ist es immer eine Bereicherung“, sagt die Chefin der Kirchheimer Stadtverwaltung.

Dass der Verein auch in diesem Jahr mit seinem Thema den Nerv getroffen hat, zeigt nicht nur das große Publikum, dass in der Kapelle des Schlosses auf den Vortrag des Beauftragten der Landesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen in Baden-Württemberg, Gerd Weimer, wartet. „Für mich ist es heute schon der dritte Termin zum Thema Inklusion“, sagt Angelika Matt-Heidecker.

So befasse sich die Stadt im Rahmen der Vorbereitungen für die Gemeinschaftsschule auf dem Rauner-Areal intensiv mit der Frage, wie viel Inklusion möglich ist. Sie sieht in der Inklusion nicht nur die Aufgabe, wie Menschen mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Für die Oberbürgermeisterin greift das Thema weit in Bereiche der Asylpolitik ein und wirft Fragen zur demografischen Entwicklung und der damit einhergehenden notwendigen Veränderung von gesellschaftlichen Strukturen auf. „Bis Ende 2015 werden im Landkreis rund 3 900 Menschen aufgenommen. Wir müssen einen menschlichen Weg finden, eine dezentrale Unterbringung zu ermöglichen“, lenkt die Oberbürgermeisterin den Blick auf eine andere Frage der Inklusion.

Umdenken sei in ganz alltäglichen Bereichen gefragt, damit Inklusion gelingen kann, sagt Dekanin Renate Kath. So stelle sich für die Kirchengemeinden zum Beispiel die Frage, ob ein Gemeindefest wie bisher gefeiert werde – oder man sich Gedanken macht, wie das Fest inklusiv gestaltet werden könne.

Ein kleines Beispiel, das den Zuhörern zeigt, dass kein Lebensbereich beim Thema Inklusion ausgenommen ist. Freizeitgestaltung und Sport, kulturelle Angebote und Bildung sowie die Arbeitswelt, führt Weimer aus, gehören zu den Themenfeldern, die derzeit im Rahmen einer Konzeption aufbereitet werden.

„Wir stehen am Anfang eines langen Prozesses“, kündigt der Tübinger an, dass die Umsetzung der UN-Konvention weite Kreise ziehen wird. Für Deutschland sei die Ratifizierung des neuen Teilhabegesetzes eine „mittlere Revolution“ und bedeute einen Paradigmenwechsel in der deutschen Behindertenpolitik. Denn bisher sieht die Realität so aus: Für die Betreuung von Menschen mit Handicap gibt es in Deutschland 20 Intensivzentren mit über 700 Plätzen. Dazu gibt es beschützte Werkstätten, die zumeist versteckt in Gewerbegebieten liegen. Ergänzt werden die Strukturen durch Schularten für die unterschiedlichen Behinderungsformen.

Diese Strukturen aufzubrechen wird nicht nur ein langer Weg sein, sondern auch kostspielig. Allein rund 70 bis 80 Prozent der Schulgebäude im Land sind nicht barrierefrei. Eine Untersuchung im Auftrag der KfW erbrachte, dass es rund 53 Milliarden Euro kosten werde, die öffentlichen Bauten barrierefrei zu gestalten. „Wer also glaubt, Inklusion könne man durch Umschichtungen finanzneutral realisieren, weiß nicht, wovon er spricht“, sagt Weimer. In Zeiten von Schuldenbremse und immer knapper werdenden Finanzen der Kommunen stellt sich für den Beauftragten allerdings die zentrale Frage: „Woher soll das Geld kommen?“

Da wundert es kaum, dass derzeit bei vielen Projekten zur Inklusion die Finanzierung zum großen Streitpunkt und Hemmnis wird. Lebhaft werde unter anderem hinter den Kulissen gestritten, wo beim Thema Inklusion in der Schule die Zuständigkeit der Landkreise ende und die Pädagogik beginne. Sprich: Wer den Fahrstuhl zahlt und wer nicht.

In Weimers Augen eine mehr als unschöne Diskussion, die aber symp­tomatisch ist: Der ehemalige Beauftragte der Bundesregierung für Belange behinderter Menschen, Hubert Hüppe, hat es für Weimer auf den Punkt gebracht: „Wer Inklusion will, sucht Wege. Wer sie verhindern will, sucht Begründungen“, zitiert er den CDU-Politiker.

Inklusion ist aber keine reine finanzielle Frage: Es gehe dabei auch darum, die Barrieren im Kopf abzubauen, sagt Weimer. Viel Luft nach oben gibt es zum Beispiel auf dem ersten Arbeitsmarkt. Aus seiner Sicht kaufen sich derzeit noch zu viele Betriebe aus der gesetzlichen Auflage zur Beschäftigung eines Menschen mit Handicap frei. Nachholbedarf gebe es nicht nur in der freien Wirtschaft, sondern ebenso bei der öffentlichen Hand, der Landesverwaltung sowie den Ministerien.

Dass Inklusion funktionieren kann, zeigen viele positive Beispiele aus der Arbeitswelt. „Wenn sich der Chef das Thema zu eigen macht, funktioniert Inklusion am Arbeitsplatz“, ist Weimer überzeugt. Ganz vorne dran seien dabei die Automobilhersteller im Land, die zudem eng mit den Werkstätten zusammenarbeiten, statt Arbeiten ins Ausland zu geben. Forderung nach einem Mindestlohn in den Werkstätten hält Weimer schon deshalb für kontraproduktiv. Denn trotz Inklusion werde auch in Zukunft der geschützte Rahmen gebraucht.

Kritisch beobachtet Weimer die Entwicklungen in der pränatalen Diagnostik. In Deutschland sei ein Test entwickelt worden, der die Trisomie 21, das Downsyndrom, bei Ungeborenen sicher nachweisen könne. In Kalifornien sind die Forscher sogar noch weiter: Sie bieten einen Test an, der 80 genetische Parameter messbar macht – von Behinderungen bis hin zu Allergien und Erbkrankheiten. „Im Moment gibt es klare Anzeichen, dass da ein unheilvoller Prozess in Gang gesetzt werden kann“, warnt er. Nicht alles medizinisch Machbare sei auch erstrebenswert, gibt er zu bedenken.

Reichlich Gesprächsstoff und Anregungen für die anschließenden Gespräche und Begegnungen, die sich an den Vortrag anschlossen. Es bot sich zudem Gelegenheit, sich mit den Mitarbeitern der Diakonie in Kirchheim auszutauschen und sich über die Arbeit des Vereins „Diakonie und Gemeinde“ zu informieren, dem es mit der von Jazz and More wie immer stimmungsvoll umrahmten Schlossgala einmal mehr gelungen ist, einem wichtigen Thema eine Plattform zu geben.