Zwischen Neckar und Alb

Wachsen und sich verwandeln

Ausstellung Zum 125-jährigen Bestehen des BBK zeigt das Landratsamt Esslingen 20 Arbeiten heutiger württembergischer Künstlerinnen. Von Dietrich Heißenbüttel

Dicht an dicht stehen die Papierhalme. Unten fast schwarz, dann grau, kurz gelblich aufleuchtend, recken sie ihre weißen Stengel in die Höhe, oben leicht geknickt oder gebogen, in schwarzen Knospen endend.

An Schilf oder ein Kornfeld erinnert die Arbeit der in Kirchheim lebenden Künstlerin Hannelore Weitbrecht, die dennoch weniger ein Abbild der Natur als der Natur nachempfunden ist. „Abheben und wegfliegen 1“ wiederum lautet der Titel des Werks der zweiten Kirchheimer Künstlerin in der Ausstellung des Bunds Bildender Künstlerinnen Württembergs (BBK): Rosemarie Beißer hat in Kirchheim das Pädagogische Fachseminar besucht und lebt heute noch hier. Aber was hebt hier ab und fliegt weg? Links oben ist tatsächlich so etwas wie ein Spielzeugflieger zu sehen. Alles andere bietet der Fantasie Raum. Tatsächlich hat die Künstlerin zunächst aus vielen Schichten den Papiergrund aufgebaut und dann mit Kohle und etwas Farbe die Formen nachgezeichnet, die sie darin entdeckt hat.

„Schauen braucht Raum“ steht unter Susanne Wolf-Ostermanns Bild. Was beim ersten Eindruck an eine Tulpe erinnert, sind tatsächlich zwei Vögel, die sich umschauen. Einen Raum braucht auch die Kunst, damit die Betrachter sie anschauen können. In diesem Fall stellt den Raum das Landratsamt Esslingen. Denn der Verein besitzt zwar seit 1907 ein Atelierhaus am Eugensplatz in Stuttgart. Aber es ist eben ein Atelierhaus, für Ausstellungen ist er auf Partner angewiesen. Als er vor 125 Jahren gegründet wurde, konnten Frauen zwar schon an der Stuttgarter Kunstakademie studieren, was damals eine seltene Ausnahme war. Doch sie genossen bei Weitem nicht dieselbe Anerkennung wie ihre männlichen Kollegen. Sie griffen zur Selbsthilfe, gründeten den Verein und erwarben das Atelierhaus. Von seinen Besuchen dort zeigte sich Tobias Wall in seiner Eröffnungsrede beeindruckt. Das Haus atme „einen eigenen Geist, eine eigene Zeit“, meinte er.

Feinsinniges Gespür

In der Ausstellung sind jedoch nicht nur Stuttgarter Künstlerinnen vertreten. Sie zeigt einen „Querschnitt“: zwanzig Arbeiten, von einer Jury ausgewählt, von zwanzig Künstlerinnen aus vielen Orten Württembergs. Was die Arbeiten von Hannelore Weitbrecht, Rosemarie Beißer und Susanne Wolf-Ostermann verbindet, ist ein feinsinniges Gespür für das zarte Material Papier und eine zurückhaltende Farbigkeit. Ähnliches lässt sich aber auch für andere Werke der Ausstellung sagen, seien sie nun figürlich oder geometrisch-abstrakt, zwei- oder dreidimensional, gemalt, gedruckt, fotografiert, geschnitten, gefaltet oder aus massivem Holz herausgearbeitet wie der „Exot“ von Susanne Gaspar, der ein wenig aussieht wie ein doppelter Kreisel, der nicht weiß, auf welche seiner beiden Spitzen er sich stellen soll.

Aber man kann sich leicht täuschen: „Metall VII“ lautet der Titel einer Arbeit von Renate Strauß, doch es handelt sich um ein Gemälde.

„Moving waters“ von Christa Düwell hingegen sieht aus wie gemalt, ist aber eine Digitalfotografie. Andrea Eitel wiederum hat eine schwarz und weiß gekleidete Ausstellungsbesucherin gemalt, die an zwei abstrakten, schwarz-weißen Wandobjekten vorbeiflaniert, doch von einer Fotografie ausgehend. Ihre Arbeit spiegelt in mancherlei Hinsicht auch die Situation im Landratsamt, denn sie zeigt als figürliche Darstellung zugleich auch abstrakt-geometrische Kunst, wie sie auch dort an der Wand hängen könnte.

Das Selbstporträt der jüngsten Teilnehmerin, Annette Trefz aus Lauffen, ist ebenfalls nicht einfach nur ein realistisches Abbild der Künstlerin, wie sie mit einem Kind auf dem Arm in einem Kreuzgang steht. Der Reiz des Tempera-Gemäldes besteht vielmehr in den changierenden Farben der alten Klostermauern und der blauen Windjacke der Künstlerin.

Ein Bündel vielfach geknickter Edelstahl-Streifen von Sibylle Burrer, das aus einem „getreppt“ aufgeschichteten Stapel dünner Spanplatten hervorquillt, wirkt vielleicht auf den ersten Blick ungeordnet. Doch in Wirklichkeit würde der Stapel umkippen, wenn er nicht von dem blechernen Bündel im Gleichgewicht gehalten würde.

Oberflächlich betrachtet ähnlich chaotisch, ist die Arbeit von Barbara Lörz aus zum Teil gefärbtem, handgeschöpftem Papier und feinen Papierstreifen in Realität äußerst diffizil und mit großer Sorgfalt hergestellt. „Wasser lässt sprießen . . .“, lautet der Titel. Man kann die Ausstellung auch als eine einzige Metamorphose, ein ständiges Wachsen und Sich-Verwandeln betrachten: Papier wird zu Wasser, Wasser zur Fotografie, ein Foto zu einem Gemälde.

 

Info: Die Ausstellung im Landratsamt, Pulverwiesen 11, läuft bis zum 27. Juni und ist montags bis freitags von 9 bis 12 und 13.30 bis 15 Uhr, donnerstags bis 18 Uhr geöffnet. Es gibt dazu auch einen 60-seitigen Katalog, in dem sämtliche Arbeiten abgebildet sind.