Lokale Kultur

Intensives Ringen um perfekte Harmonie

Andrea Roggon präsentierte das schwäbisch-argentinische Tango-Weltmeisterpaar „Enrique y Judita“

Kirchheim. Dass Tango viel mehr ist als nur ein Tanz, ist hinlänglich bekannt. Welch ungeheure physischen und vor allem auch psychischen Belastungen hinter diesen ungemein

ästhetischen fließenden Bewegungen tatsächlich stecken, macht der emphatische Film „Enrique y Judita“ von Andrea Roggon deutlich.

Im Rahmen der Reihe „Freie Geschichten“ war er am Mittwoch in gleich zwei Aufführungen in der Kirchheimer Stadthalle zu sehen. Der weitgehend unkommentiert Gefühle weckende Dokumentarfilm gewährt dabei intimste Einblicke in die verzweifelte Suche eines sehr unterschiedlichen Paares nach der für den Tango Argentino zwingend erforderlichen Harmonie. Sie ist schließlich Grundvoraussetzung, um auch nur den Hauch einer Chance zu haben, in der hart umkämpften Schlangengrube konkurrierender argentinischer Vollbluttänzer überleben zu können. Keine leichte Aufgabe also für eine in Spanien ausgebildete erfahrene Flamencotänzerin und eines früher eher bewegungsunerfahrenen gelernten Physiotherapeuten aus Deutschland, der als Kind so schwer unter Asthma litt, dass er oft nicht zur Schule gehen konnte und kaum in der Lage war, seinen Alltag zu bewältigen.

Andrea Roggon zeichnet in ihrem 70-minütigen Film ein facettenreiches Portrait eines Paares, das das Unmögliche schafft. Von einem beide verbindenden starken Erfolgswillen getrieben, lassen sie sich von den großen Meistern des Tangos in Buenos Aires ausbilden. Die Eleganz ihrer fließenden Bewegungen und das darin erkennbare Gespür für die Geheimnisse des Tango, ohne die eine Karriere auf diesem spiegelglatten Terrain gar nicht möglich scheint, verdanken sie ihrem nicht zu bremsenden Ehrgeiz, genauso wie der Erfahrung und Geduld der sie unterrichtenden Tango-Legenden.

2003 erreicht der unglaubliche, hart erkämpfte kometenhafte Aufstieg von Enrique Grahl und Judita Zapatero erste alle Erwartungen übertreffende Höhepunkte. Nach dem ersten Platz bei den deutschen Meisterschaften Tango Argentino in Dortmund und dem Publikumspreis sind sie schon ein Jahr später Finalisten des Welttango-Wettbewerbs in Buenos Aires und werden Vizemeister. Nach einem 4. Platz im darauffolgenden Jahr feiern sie dann 2006 in Japan ihren allergrößten Erfolg und werden in Tokio Tango-Weltmeister.

Damit das Stadthallen-Publikum besser nachvollziehen kann, welch enorme Bedeutung dem Führen beim Tango zukommt, überraschte Tangoweltmeister Enrique Grahl sie direkt vor der Filmvorführung mit einem spontanen Crash-Kurs. Wie genau sich das anfühlt, wenn der Tangotänzer die stets improvisierten Schritte wählt, in die er seine Partnerin führt, konnte im mit geschlossenen Augen durchgeführten Selbstversuch bewusst wahrgenommen werden. Zumindest ansatzweise fühlbar vermittelt wurde dabei, dass Tango tatsächlich nicht Tanz, sondern – im Idealfall – wortloser Dialog ist, der ohne zusätzliche sprachliche Vermittlung direkt durch den Körper funktionieren muss.

Wie wort- und gestenreich, vor allem aber auch enorm konfliktintensiv dieser ungefilterte direkte Zugang zunächst zu ebnen ist, zeigte dann der sich anschließende Film. Fast schmerzhaft ließ er die Qualen spüren, mit denen das Privileg erkämpft werden muss, das von allen Tangotänzern angestrebte Ideal eines unverzichtbaren Höchstmaßes an Harmonie zu erreichen.

Dieser harten Suche nach dem richtigen Weg hatte sich Regisseurin Andrea Roggon vor allem verschrieben, der es aber immer wieder auch gelang, aus der überbordenden Materialfülle von rund 84 Stunden auch genügend Hoffnung weckende Sequenzen einzubauen, die die uneingeschränkte Schönheit dieses ästhetischen Tanzes und seine Menschen unterschiedlichster Herkunft zusammenführende Qualitäten spüren zu lassen.

„Enrique und Judita“ zeigt, dass die beiden engagierten und fast besessenen Neulinge einfach von Anfang an schon zur großen Familie der Tangotänzer gehörten, bei der sie auch als mit Weltmeisterehren daherkommende Stars nicht aus der Reihe tanzten.

Nachdem sich Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker schon am Vormittag den unterschiedlichsten Fragen von Schülern und der drei Regisseure der Reihe „Freie Geschichten“ gestellt hatte, warb abends Weltmeister Enrique Grahl dafür, Unmögliches zu wagen und den Mut zu haben – wie einst Kolumbus – auch beim „Point of no Return“ nicht auf halber Strecke aufzugeben, sondern konsequent den Weg weiterzugehen.

Auch Krishna Saraswati unterstützte diese These. Wer auf der Suche nach neuen Kontinenten die Hälfte seiner Lebensmittel verbraucht habe, müsse eine klare Entscheidung treffen. Selbst wenn sie falsch sei, könne man damit eine wertvolle Erfahrung sammeln, die in diesem Fall allerdings mit dem Leben hätte bezahlt werden müssen.

Mit Jan Raibers Film „Alle meine Väter“ wird die von drei Regisseuren getragene Reihe „Freie Geschichten“ am Mittwoch, 7. Dezember, um 19.30 Uhr in der Stadthalle abgeschlossen.