Lokale Kultur

Wer sind die Opfer und wer waren die Täter?

Landesbühne Schwaben beeindruckte mit Ariel Dorfmans Welterfolg „Der Tod und das Mädchen“

Kirchheim. Gastspiele des Landestheaters Schwaben sind im Rahmen des Kirchheimer Kulturring-Abonnements eher rar. Was das Ensemble aus Memmingen beim jüngsten Besuch in der Stadthalle im Gepäck hatte, war die lange Anreise aber zweifellos wert. Von der Logistik her

WOLF-DIETER TRUPPAT

war der dazu erforderliche Aufwand für die von Gabriele Mugdan inszenierte und von Sabine Manteuffel ausgestattete Aufführung von Ariel Dorfmanns modernem Klassiker „Der Tod und das Mädchen“ nicht allzu herausfordernd.

Nur drei Schauspieler teilten sich die in neutraler Modernität bis auf durchscheinende großformatige Schiebetüren und eine dahinter sich befindende Treppe eher spärlich ausgestaltete und über 90 Minuten unverändert bleibende Bühne. Eingespielt wurde immer wieder ein und dasselbe Musikstück. Auch die für das jeweils passende Licht zuständigen Techniker taten nicht viel mehr, als dezent von freundlich hellgelbem zu kaltem blauen Licht zu wechseln und mit gelegentlichem Auf- und Abblenden den Zeitablauf erkennbar zu machen. Mehr spielte sich eigentlich nicht ab – äußerlich.

Was dagegen auf dem Mikrokosmos der Bühne zwischen den durch ein erbarmungsloses Schicksal aneinandergeketteten Personen psychologisch geschah, war enorm komplex und in seiner Tragik und Brutalität oft auch nur schwer erträglich. Dass es sich nicht „nur“ um Szenen einer mit größten psychologischen Hypotheken belasteten Ehe handelte, sondern auch die erdrutschartigen politischen Veränderungen im Makrokosmos eines von ihnen geliebten und gehassten Heimatlandes eine zentrale Rolle spielten, machte das Ganze nicht einfacher.

Auch wenn Ariel Dorfman seinen Blick auf Chile nach Pinochets Schreckensherrschaft richtete, wollte er nicht dokumentieren – und sich damit seiner künstlerischen Freiheit berauben – sondern zeigen, dass auch jedes andere Land in genau der schweren Zeit gemeint sein kann, in der sich erneuernde Staaten und die darin lebenden Menschen versuchen, mit den elementaren Fragen fertig zu werden, die sich aufdrängen, wenn eine überwunden geglaubte Diktatur sich anschickt, sich mit ersten wackeligen Schritten in der schönen neuen Welt der Demokratie zurechtzufinden.

Was passieren kann, wenn man glaubt, alle Schrecken hinter sich zu haben und doch brutalst von der Vergangenheit eingeholt wird, zeigt Ariel Dorfmans Fanal gegen Folter und Gewalt an symbolischen Figuren auf, die selbst nur austauschbare Stellvertreter sind für die Täter und Opfer, deren Rollen in der Ausnahmesituation der Neugeburt eines Staatswesens nur schwer zu unterscheiden und auch auf Dauer nur bedingt auseinanderzuhalten sind.

Wahre Wechselbäder der Gefühle hatte das Publikum zu durchleiden, um beim Blick in menschliche Abgründe ein eigenes Verständnis von Schuld und Unschuld, Vertrauen und Betrug und nicht zuletzt auch davon zu entwickeln, ob die Zerreißprobe menschlicher Belastbarkeit nun ein gnadenloses Bild der Realität zeichnet oder alles nur ein schrecklicher Albtraum ist, der nicht nur in den Köpfen, sondern auch auf der Bühne stattfindet.

Was mit harmlosem Alltagsgeplauder beginnt, verliert rasch seine Unschuld und oft auch viel vom gebührend nach außen gekehrten gutbürgerlichen Anstand und entwickelt sich zu einer Höllenfahrt in einem immer schneller und verwirrender sich drehenden Karussell. Angst kippt um in blanke Aggression, hehren moralischen und juristischen Ansprüchen stehen Rachegelüste und Vergeltungsgedanken gegenüber, Seilschaften bilden und ändern sich wieder und es wird immer schwieriger, Freund und Feind, Täter und Opfer, Gute und Böse und nicht zuletzt auch Lebende und Tote zu unterscheiden.

Während Paulina (Joséphine Weyers) zu Hause auf ihren Mann wartet, hört sie Schuberts wunderbares Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“, das für sie mit einem schweren Trauma verbunden ist. Ihr Mann, Rechtsanwalt Gerardo Escobar (André Stuchlik) wurde vom Präsidenten beauftragt, den Tod politischer Häftlinge in den Jahren der Diktatur zu untersuchen. Eine platter Reifen auf der Heimfahrt löst ein Drama aus, das seinesgleichen sucht.

Ein gewisser Dr. Roberto Miranda (Fridtjof Stolzenwald) fährt den künftigen Justizminister nach Hause, und von dieser ersten Begegnung an werden die Figuren auf der Bühne wie auch die Zuschauer vor schwierigste Entscheidungen gestellt. Ist der „rettende Engel“ und „Gutmensch“ tatsächlich das menschliche Scheusal, das Paulina entführt, gefoltert und vergewaltigt hat? Konnte die schwer traumatisierte Angehörige der neuen Oberschicht tatsächlich ihren Peiniger an seiner Stimme, seiner Haut und seinem Geruch erkennen, oder wird hier ein Unschuldiger das Opfer nicht begründbarer Projektionen.

Dem Autor gelingt es – mit seinem zu verdientem Weltruhm gelangten Theaterdebüt – ein klassisches moralisches Dilemma aufzuzeigen, das alle – auch hier und heute – noch angeht: „Folter zerstört die innere Struktur der Menschlichkeit – und wenn das einmal passiert ist, kann man nicht wieder in den Stand der Unschuld zurück.“

Charlotte von Oppen, Gastspielreferentin des Landestheaters Schwaben, hatte das Publikum schon da­rauf vorbereitet, dass es „keinen klaren Schluss“ geben wird. Ariel Dorfman hält sich nicht an die Praxis, dass „so ziemlich jedes Problem aufgeworfen“ werden könne, wenn es dafür am Schluss gelöst sei. Da er nie sagt, ob der Doktor tot oder lebendig, schuldig oder nicht schuldig ist, muss auch offen bleiben, ob die Schlussszene so „real“ ist, wie die Handlung zuvor. Das sollte seiner Meinung nach das Publikum am Ende beschäftigen und nicht die Frage, wo man anschließend noch einkehren könnte.