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"Die Schüler werden von ihm profitieren"

Martin Park ist der einzige blinde Gymnasiallehrer in Baden-Württemberg – Seit September unterrichtet er am Schlossgymnasium in Kirchheim

Martin Park ist der einzige blinde Gymnasiallehrer in Baden-Württemberg. Seit September unterrichtet er am Schlossgymnasium in Kirchheim

Unterrichtsstunde mit Martin Park, blinder Lehrer am Schlossgymnasium
Unterrichtsstunde mit Martin Park, blinder Lehrer am Schlossgymnasium

Kirchheim. Der rote Ball mit den weißen Punkten fliegt quer durchs Klassenzimmer, doch Finja hebt nicht mal den Kopf. Die Blindenhündin, die Martin Park täglich ins Schlossgymnasium begleitet, liegt still auf ihrer Decke und hat den Kopf auf die Pfoten gelegt. Der Meldeball, den die Schüler sich zuwerfen, um sich gegenseitig aufzurufen, kann sie nicht locken.

Seit knapp zwei Monaten unterrichtet Martin Park am Schlossgymnasium Geografie und Französisch. Im Grunde ist der 31-Jährige ein Junglehrer unter vielen, die in diesem Schuljahr ihre Berufslaufbahn begonnen haben. Doch wer von dem blinden Lehrer hört, dem schießen unwillkürlich viele Fragen in den Kopf. Wie schreibt er an die Tafel? Wie passt er auf, dass niemand abschreibt? Wie verhindert er, dass einer Quatsch macht? Wie kann ein Mensch, der noch nie einen Berg gesehen hat, Geografie unterrichten? Wie veranschaulicht ein Blinder den Sehenden, was ein Erdbeben ist?

Wer Martin Park bei der Arbeit zuschaut, für den beantwortet sich vieles ganz von selbst. Statt Tafel und Kreide hat er ein sogenanntes Smartboard, einen Laptop mit Braille-Zeile und einen Beamer. Damit wirft er Texte an die Wand, tippt während des Unterrichts Aufschriebe mit oder lässt die Schüler schreiben. Weil es unmöglich wäre, diese technischen Hilfsmittel permanent von einem Raum in den anderen zu schaffen, hat Martin Park sein eigenes Klassenzimmer. Vorne steht ein großer Relief-Globus, dessen tastbare Oberfläche die Höhen-Topografie der Erde veranschaulicht. Und wenn Martin Park erklären möchte, wie ein Erdbeben entsteht, malt er es eben nicht an die Tafel, sondern demonstriert es mit einem Blatt Papier.

Es ist 8 Uhr. Vor den Fenstern des Klassenzimmers kämpfen die ersten Sonnenstrahlen gegen den zähen Nebel. Drinnen üben die Fünftklässler Himmelsrichtungen. Martin Park hat einen Lückentext über einen Weltumsegler an die Wand projiziert, den er am Vorabend geschrieben hat. Die Schüler lesen den Text laut vor und ergänzen die Himmelsrichtungen.

Der Lehrer hat die Erfahrung gemacht, dass sein Blindsein vor allem für die Jüngeren keine große Sache ist. „Die sehen das so: Der eine Lehrer hat eine Knollennase, und der Park sieht eben nichts“, sagt er.

Dann sind alle Lücken gefüllt. Das sind die Momente, in denen die Schüler gefragt sind. „Herr Park, nächste Folie“, rufen sie. Und wenn der Beamer in den Ruhezustand abzudriften droht, zählen sie laut den Countdown mit: „Zehn – neun – acht – sieben –sechs . . .“. Auch der Meldeball, mit dem sich die Schüler gegenseitig aufrufen, erfordert von den Schülern mehr Eigeninitiative, als es sonst üblich ist. Martin Park findet das gut. „Dadurch ist der Unterricht nicht so lehrerzentriert. Die Schüler interagieren miteinander, sprechen sich gegenseitig an, diskutieren miteinander.“

So zum Beispiel während „Geo Aktuell“, einem Unterrichtselement, das Martin Park immer wieder einstreut. Die Schüler dürfen erzählen, von welchen geografischen Ereignissen sie in der Zeitung gelesen haben. In dieser Woche ist das Erdbeben in der Türkei ein großes Thema. Die Schüler diskutieren, wie es zu einer solchen Naturkatastrophe kommen kann und wie es möglich war, dass ein kleines Baby unter den Trümmern überlebt hat. Nebenher kann Martin Park einstreuen, was Erdplatten sind und wie ein Erdbeben entsteht.

Nachdem alle Fragen beantwortet sind, beginnt der praktische Teil des Unterrichts. Mit einer blauen Styroporkugel basteln die Kinder einen Globus. Jetzt ist Kathrin Keller gefragt. Sie ist Martin Parks Assis­tentin und im Unterricht immer dabei. Die Sozialpädagogin achtet bei Klassenarbeiten darauf, dass niemand die Nase in die Arbeit des anderen steckt. Sie scannt Texte ein, macht Kopien oder hilft den Fünftklässlern beim Basteln. Kurz: Sie gibt Park immer dann optische Unterstützung, wenn er sie braucht.

Wenn Martin Park mit Finja durch die Schulflure geht, bleiben viele, vor allem jüngere Schüler stehen und starren ihn an. Als einziger Blinder unter Sehenden aufzufallen, das ist für ihn, der als Kind an Augenkrebs erkrankte, normal. Schon immer hat es Martin Park, der damals Rehfuß hieß, in die Welt der Sehenden gezogen. Als Jugendlicher hielt er es auf der allzu beschützenden Blindenschule nicht mehr aus und wechselte ans Ludwig-Uhland-Gymnasium nach Kirchheim. Anschließend studierte er – wieder als einziger Blinder – an der Universität Freiburg Geografie und Französisch auf Lehramt. Sein Referendariat machte er, allen Unkenrufen zum Trotz, auf einem Gymnasium in Staufen bei Freiburg. „Das Referendariat war eine Bewährungsprobe“, sagt er im Rückblick. „Aber wenn die Schüler einem das Gefühl geben, dass man im richtigen Job ist, dann besteht man sie auch.“

Aktuell ist Martin Park der einzige blinde Gymnasiallehrer in Baden-Württemberg. Besonders stolz ist er darauf, dass er die Stelle am Schlossgymnasium nicht über das Schwerbehindertenvergabeverfahren bekommen hat, sondern über das Verfahren, an dem alle Referendare teilnehmen – und an dem in diesem Jahr wieder über die Hälfte der Bewerber gescheitert ist. „Ich habe also auf dem freien Markt konkurriert“, sagt er. Kirchheim war zwar – wie er offen zugibt – nicht seine erste Wahl. Lieber wäre er in Freiburg geblieben, wo er seine Frau kennengelernt und die letzten zehn Jahre gelebt hat. Inzwischen hat er sich damit arrangiert. „Ich fühle mich wohl hier, und das Unterrichten macht wahnsinnig viel Spaß.“

„Die Schüler werden von ihm profitieren“, sagt Lucia Heffner, Schulleiterin am Schlossgymnasium. An der Eignung ihres neuen Lehrers hatte sie von Anfang an keine Zweifel. „Wer mit dieser Behinderung ein Geografie­studium durchsteht, der kann das.“ Skeptisch war sie schon eher, ob die Schule baulich geeignet ist. „Aber nachdem ich mich bei seinem ehemaligem Schulleiter erkundigt hatte, war klar: Das bekommen wir schon hin.“ Man müsse das pragmatisch sehen: Wenn Hindernisse auftauchten, würden sie eben aus dem Weg geräumt.