Kirchheim
Kirchheimer Schulen kämpfen gegen Corona-Lernlücken

Förderprogramm „Lernen mit Rückenwind“ soll Schülerinnen und Schülern helfen, pandemiebedingte Rückstände aufzuholen. Einige Kirchheimer Schulen vermeldet bereits Erfolge. Von Bianca Lütz-Holoch

Johannes Bosch deutet auf die beiden Zeiger, die er samt Uhr an die Tafel gezeichnet hat. Der blaue Minutenzeiger steht auf der neun, der rote Stundenzeiger etwas vor der vier. „What time is it?“, fragt der Lehramtsstudent die fünf Sechstklässler vor ihm. Drei Anläufe braucht es, dann ist die richtige Antwort gefunden: „A quarter to four.“

 

„Man merkt, dass Schulschließungen mit extremen Folgen verbunden sind.
Marlon Lamour
Rektor der Freihof-Realschule

Die Sechstklässler gehören zu rund 100 Schülern der Freihof-Realschule, die an „Lernen mit Rückenwind“ teilnehmen – einem Förderprogramm, das helfen soll, pandemiebedingte Lernrückstände in den Hauptfächern aufzuholen. Landesweit helfen Studenten, ehemalige und aktive Lehrkräfte den Schülern dabei, wieder den Anschluss zu finden.

„Am Anfang war ich sehr skeptisch“, gesteht Marlon Lamour, Rektor der Kirchheimer Freihof-Realschule (FRS). Er sah vor allem ein neues Bürokratiemonster auf sich zukommen. Ein Vierteljahr später ist er sich jedoch mit Kolleginnen und Kollegen anderer Kirchheimer Schulen einig: Der Aufwand für die Schulleitungen und organisierenden Lehrkräfte ist zwar immens. Aber: Er lohnt sich.

„Es bringt wirklich was“, freut sich Marlon Lamour über positive Rückmeldungen und erste Erfolgserlebnisse. Thorsten Bröckel, Leiter der Kirchheimer Alleen­schule und geschäftsführender Schulleiter in Kirchheim, sieht das ähnlich: „Ich halte das Programm für eine gute Sache“, sagt er.

Einige Kinder waren schwer erreichbar

„Es gibt Kinder, die man in Corona-Zeiten schwer erreicht hat“, weiß Bröckel. Dass Bund und Land nun Mittel zur Verfügung stellen, um sie aufzufangen, hält er für richtig. „Ich würde mir nur wünschen, dass das längerfristig fortgesetzt wird“, so der geschäftsführende Schulleiter.

„Man merkt, dass Schulschließungen mit extremen Folgen verbunden sind“, sagt Marlon Lamour. „Es ist gut, dass das Land da was tut.“ Dabei sind es nicht einmal die Lernrückstände, die ihm besondere Sorgen bereiten. „Die Folgen im sozial-emotionalen Bereich sind noch viel schlimmer.“

Genau aus diesem Grund setzt die Kirchheimer Raunerschule bei „Lernen mit Rückenwind“ neben Unterstützung in den Hauptfächern auch auf Angebote im sozial-emotionalen Bereich sowie bei der beruflichen Orientierung. „Da konnten einige Maßnahmen pandemiebedingt nicht oder nur eingeschränkt stattfinden“, sagt Annette Wolf, Leiterin der Raunerschule. „Durch das Programm erhalten die Schülerinnen und Schüler eine möglichst passgenaue Unterstützung in den unterschiedlichsten Förderschwerpunkten“, so Wolf – ein sinnvolles Angebot, wie sie findet: „Es ermöglicht vielfältige Hilfen bei den individuellen Lernrückständen.“

Schule in der Schule

Während die Alleenschule und die Raunerschule die Angebote in den Schulalltag integrieren, gibt es an der Freihof-Realschule separate Zeiten für den Zusatzunterricht. Die Kurse finden geballt an Mittwoch- und Freitagnachmittagen statt. Ähnlich sieht es am Kirchheimer Schlossgymnasium aus: „Wir haben sozusagen eine Schule in der Schule“, beschreibt es Gabi Miehe, die für die Organisation des Programms am „Schloss“ mitverantwortlich ist. Wenn dort freitagmittags die Schule zu Ende ist, startet der Zusatzunterricht.

110 Schülerinnen und Schüler haben Einladungen erhalten. „Es kommen aber nicht alle – und die Zusammensetzung ändert sich ständig“, beschreibt Gabi Miehe das „fluide System“. Manche Schüler haben bereits so vom Zusatzunterricht profitiert, dass sie ihn nicht mehr brauchen. Andere stoßen dazu. „Die Förderung in Kleinstgruppen bringt den Kindern wirklich was“, ist die Lehrerin überzeugt. Eine besondere Herausforderung: Das Land hatte keine Französisch-Fachkräfte vorgesehen – dabei benötigen gerade in diesem Fach viele Gymnasiasten Unterstützung. Aber auch dafür wurde eine Lösung gefunden: Abiturienten unterrichten die Jüngeren. „Das Schülermodell funktioniert richtig gut“, so Miehe.

Dass sie das Förderprogramm im kommenden Jahr fortführen, steht für Thorsten Bröckel und Annette Wolf bereits fest. Am Schlossgymnasium und an der Freihof-Realschule will man es am Ende des Schuljahres erst einmal evaluieren. Vor allem aber hoffen die Schulen auf mehr Normalität – ohne monatelange Homeschooling-Phasen wie in der Vergangenheit. „So etwas darf nie wieder passieren“, findet Marlon Lamour: „Keine noch so gute digitale Unterrichtsstunde kann den Präsenzunterricht ersetzen.“

 

„Lernen mit Rückenwind“:
Vier Beispiele aus Kirchheim

„Lernen mit Rückenwind“ ist ein auf zwei Jahre angelegtes Förderpogramm, das das Land Baden-Württemberg im Rahmen des Bund-Länder-Aktionsprogramms „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ aufgelegt hat. Es richtet sich an Schülerinnen und Schüler, die erhebliche Lernlücken oder Defizite im sozial-emotionalen Bereich aufweisen. In Kleingruppen erhalten sie während der oder zusätzlich zur Unterrichtszeit Förderung in Deutsch, Mathe, Englisch und anderen Profilfächern. Insbesondere angesprochen sind Viertklässlser sowie Schüler, denen der Schulabschluss bevorsteht. Nach den Vorbereitungen sind die meisten Schulen ab November aktiv gestartet.

An der Alleenschule nehmen 84 Schülerinnen und Schüler an dem Programm teil. Es wird in den Schulalltag integriert. Förderung gibt es vor allem in Deutsch und Mathe, für die Hauptschüler auch in Englisch. Außerdem kooperiert die Schule mit dem KiZ im Bohnauhaus in punkto Berufsvorbereitung. Für den Zusatzunterricht konnte die Schule externe Betreuungskräfte gewinnen und ehemalige Lehrkräfte reaktivierten. Außerdem haben zwei aktuelle Lehrkräfte aufgestockt.

An der Raunerschule nehmen 114 Schülerinnen und Schüler der Schule am Programm teil. Eine externe Lehrkraft unterstützt die Kinder an drei Tagen in der Woche in den Fächern Deutsch und Mathematik. Die Angebote finden in Kleingruppen parallel zum Unterricht oder in den Ganztageszeiten statt. Als Kooperationspartner sitzen auch das KiZ mit Angeboten zur Berufsvorbereitung und die Bruderhausdiakonie mit sozialem Kompetenztraining im Boot.

An der Freihof-Realschule nehmen 99 Schüler an dem Programm teil. Den Zusatzunterricht in Deutsch, Mathe und Englisch übernehmen an Mittwoch- und Freitagnachmittagen Lehrkräfte der Schule, pensionierte Lehrer, Lehramtsanwärterinnen des Pädagogischen Fachseminars in Kirchheim sowie Lehramts-Studenten. Ein Mitarbeiter des CVJM steht bereit, wenn Schüler einen Ansprechpartner im sozial-emotionalen Bereich brauchen. Als Kooperationspartner, der die Organisation übernimmt, hat die Schule die Unternehmensberatung „Jamm“ engagiert, die auf Projekte im Bildungssektor spezialisiert ist.

Am Schlossgymnasium nehmen etwa 100 Schüler an dem Programm teil. „Lernen mit Rückenwind“ findet immer Freitagnachmittags statt. Bei den Klassen 5 bis 10 arbeitet des Schlossgymnasium mit Studenten, die sich als „pädagogische Assistenten“ beim Land für das Programm beworben haben, sowie mit einer ehemaligen Lehrkraft. In Französisch übernehmen volljährige Schüler den Zusatzunterricht. Die Schüler der beiden Jahrgangsstufen, also der Klassen 11 und 12, erhalten Gutscheine und können sie bei der Schülerhilfe einlösen.