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„Unsere Augen brannten fürchterlich“

Eine Kirchheimer Familie erlebte unfreiwillig Polizeigewalt am Rande des Taksim-Platzes in Istanbul

Nachdenklich blickt Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk vom zum Abriss vorgesehenen Atatürk-Kulturzentrum auf die Barrikadentrüm
Nachdenklich blickt Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk vom zum Abriss vorgesehenen Atatürk-Kulturzentrum auf die Barrikadentrümmer zwischen Taksim-Platz und Gezi-Park in Istanbul herab.Foto: Fischer

Kirchheim. Es war ein Geschenk an Tochter Simone zum mit Bravour bestandenen Abitur. Eine Städtereise übers Wochenende in eine europäische Metropole. Die Wahl der jungen Kirchheimerin fiel auf Istanbul, Europas Kulturhauptstadt 2010, deren historische Altstadt aufgrund

ihrer Einzigartigkeit von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Doch die Erinnerung der Familie an die türkische 17-Millionen-Stadt am Bosporus ist sehr zwiespältig, gerieten sie doch unfreiwillig mitten in die brutale Polizeiaktion ­am vergangenen Samstag gegen die Demon­s­tranten auf dem Taksim-Platz.

Ihr Hotel lag auf der Beyoglu-Seite am Wasser gegenüber des Goldenen Horns, erzählt Christine Fischer, deren letzter Istanbulbesuch 25 Jahre zurückliegt. Nach dem Bus-Shuttle vom Flughafen zum Hotel am Freitagvormittag erkundeten die Fischers das Gebiet um den Galataturm und nahmen dazu die Tünel-Bahn. Anschließend bummelten sie auf der Istiklal Caddesi, der berühmtesten Einkaufsstraße Istanbuls in Richtung Taksim-Platz. „Alles war geöffnet, die Touristen kauften ein, es war weder von den Protesten noch von der Gewalt zu spüren“, erinnert sich die Kirchheimerin. Als sie an den Taksim-Platz kamen, standen linker Hand Busse und davor schwarz gekleidete Polizisten. „Wir sind dann die Treppen zum Gezi-Park hochgegangen und sahen zwei, drei Autowracks und dahinter im Park unter den Bäumen eine Unmenge Zelte“, erzählt Christine Fischer. „Die Stimmung war ganz friedlich, wie auf einem Festival mit verschiedenen Gruppen. Die Leute diskutierten, Kinder spielten und liefen herum. Es waren da viele junge Leute, aber auch ältere.“ Die Kirchheimer Familie ging daraufhin wieder ins Hotel zurück.

Am Samstagabend nach einem Sightseeing-Programm mit den Stationen Hagia Sophia, Blaue Moschee, Basar, Topkapi-Palast und Suleiman-Moschee auf dem Goldenen Horn ging die Kirchheimer Familie in eines der vielen netten Lokale in der Nähe des Galataturms. Anschließend wollte Christine Fischer mit Mann und Tochter den Abend auf einer der zahlreichen bewirteten Dachterrassen ausklingen lassen. „Plötzlich kamen aus einer Tünel-Station viele Demonstranten und gingen in Richtung Taksim-Platz“, berichtet Christine Fischer. „Wir hatten den Eindruck, irgend etwas passiert hier demnächst.“

Zehn Minuten später kamen Menschen die Istiklal-Straße wieder ­zurückgerannt und riefen den Umstehenden etwas auf Türkisch zu, wo­raufhin alle in den nahen, engen Seitengassen verschwanden. „Wir sind in die nächste Boutique gegangen und haben beobachtet, was geschieht“, erzählt die Kirchheimerin. „Plötzlich stand ein gepanzertes Polizeifahrzeug auf der Straße und feuerte hinter den flüchtenden Demonstranten Tränengasgeschosse her.“ Das Tränengas waberte auch in die Boutique. „Es brannte fürchterlich in den Augen“, berichtet Christine Fischer. Der Besitzer des Geschäfts habe dann den Ventilator eingeschaltet und Flüssigkeit geholt, um die Augen auszuwaschen. „Wir waren geschockt. Damit hatten wir nicht gerechnet.“

Nach 20 Minuten war der Spuk vorbei. Die Familie ließ sich daraufhin in einer Bar, zwei, drei Straßen weiter, nieder. Dort saßen junge Leute und informierten sich über Twitter und Facebook über die Geschehnisse in ihrer Stadt. „Es lag eine unheimliche Spannung in der Luft und der Wirt riet uns, hierzubleiben, 40 Meter weiter wird gekämpft.“ Mutter, Vater und Tochter nahmen den Rat an und traten erst nach einer Stunde den Rückweg ins Hotel an.

Bei der Bosporus-Fahrt am Sonntag zeigte sich Istanbul von seiner besten Seite. Am späten Nachmittag fielen den Kirchheimern Boote mit Erdogan-Anhängern auf, die eine Station vor ihrem Ausflugsende anlegten. Abends gingen wiederum sehr viele Menschen in Richtung Galataturm. Es roch immer noch nach Pfefferspray und Tränengas. Christine Fischer und ihre Familie fanden ein höher gelegenes Restaurant und fanden sich plötzlich in einem aberwitzigen „Film“ wieder: Auf der einen Seite bummelten wie gewöhnlich Touristen und auf der anderen Seite des Lokals rannten Polizisten mit Tränengas und Knüppeln Demonstranten hinterher.

Später im Hotel auf der Dachterrasse übertrug das türkische Fernsehen Liveaufnahmen. „Es war eine merkwürdige Situation, weil wir ja auch kein Türkisch verstehen“, sagt Christine Fischer. Auf dem einen Kanal jubelten Anhänger Tayyip Erdogan zu und auf dem anderen Kanal kamen Handymitschnitte prügelnder Polizisten.

Am Montag, dem Abreisetag, gingen die Kirchheimer nochmals zum Taksim-Platz – „Wir waren betroffen und interessiert.“ Der Platz war voller martialisch gekleideter Polizisten mit Schlagstöcken und Schildern. Ein bleibender Eindruck der sonst für Christine Fischer so faszinierenden türkischen Metropole an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien, in der die Gegensätze dermaßen drastisch aufeinanderprallen.