Kirchheim

„Wir werden innerlich schamrot“

Kriegsende Vor 75 Jahren wurde Kirchheim besetzt. Kurz darauf sprach Stadtpfarrer Berg äußerst unbequeme Wahrheiten aus.

Kirchheim. Das Kriegsende hat viele Daten: Allgemein gilt der 8.  Mai als der Tag, an dem der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Russ­land dagegen feiert den 9.  Mai als Tag des Kriegsendes, weil an diesem Tag in Karlshorst die bedingungslose Kapitulation bestätigt wurde. Und in Kirchheim? Hier endete der Zweite Weltkrieg schon am Freitag, 20. April 1945. Das Ende der Nazi-Herrschaft kam mit dem Einmarsch der Amerikaner, die über Notzingen und Schlierbach vorrückten.

Kirchheimer, die heute 85 Jahre alt sind, erinnern sich besonders gut an diesen Tag. Für die damals Zehnjährigen war er eine einzige Enttäuschung: An „Führers Geburtstag“ hätten sie ins „Jungvolk“ oder bei den „Jungmädels“ aufgenommen werden sollen, also in die Vorläufer-Organisationen der eigentlichen Hitler-Jugend beziehungsweise des BDM (Bund Deutscher Mädel). Weil Staat und Gesellschaft durch und durch nationalsozialistisch geprägt waren, fieberten sie diesem Tag entgegen, an dem sie endlich zu den „Gro­ßen“ zählen sollten - wenn auch zu den Kleinen unter den Großen.

Das Gefühl der kindlichen Enttäuschung ist ihnen heute noch präsent - auch wenn sie inzwischen längst gelernt haben, dass ihnen das Schicksal in diesem Fall keinen Streich gespielt hat. Vielmehr ist es ihnen in letzter Sekunde erspart geblieben, noch als Kinder komplett vom Nationalsozialismus vereinnahmt zu werden.

Der Weg war weit, um den Tag, an dem der Krieg verloren war, als Tag der Befreiung von der Nazi-Herrschaft anzusehen. Vollendet hat diesen Weg erst 40 Jahre später Bundespräsident Richard von Weizsäcker, in seiner aufrüttelnden Rede vom 8. Mai 1985.

Eindrückliche Bußpredigt

Bereits am 29. April 1945 konnten die Kirchheimer erfahren, welche grauenvollen Taten mit der Nazi-Diktatur zusammenhingen: Stadtpfarrer Christian Berg verschonte die Kirchheimer in seiner Bußpredigt in der Martinskirche keineswegs mit der Wahrheit. In der Kirchheimer Stadtgeschichte von 2006 wird er zitiert: „Vorbereiten möchte ich euch auf das, was ihr in nicht zu ferner Zukunft an grauenvollen Einzelheiten werdet lesen und hören müssen und was in unserer Mitte sich ereignet hat. Es wird das jetzt alles ans Tageslicht kommen, und wir werden dann innerlich schamrot werden.“

So richtig grauenvoll war das Kirchheimer Kriegsende nicht. Die Stadt und ihre Bewohner sind vergleichsweise glimpflich davongekommen. Aber friedlich verliefen diese Tage trotzdem nicht. Die Stadtgeschichte erwähnt einen ano­nymen Augenzeugen, der für den 19. und 20. April von 54 Todesopfern in Kirchheim berichtet - heute vor 75 Jahren. Andreas Volz