Kirchheim

Auch Herzogin Henriette war Migrantin

Vortrag Migration ist kein neues Thema. Kirchheim hieß schon in der Vergangenheit jeden willkommen der Zuflucht und Arbeit suchte. Von Melissa Seitz

Stadtarchivar Dr. Joachim Brüser macht klar: Kirchheim war schon immer von Migration geprägt. Fotos: Carsten Riedl
Stadtarchivar Dr. Joachim Brüser macht klar: Kirchheim war schon immer von Migration geprägt. Fotos: Carsten Riedl

Der Gewölbekeller unter der Kirchheimer Volksbank hat schon viel erlebt. Der Stadtbrand von 1690 machte viele Gebäude dem Erdboden gleich. Auch der Gewölbekeller, der Veranstaltungsort des Frauenwirtschaftstages, blieb nicht verschont. Es ist unumstritten, dass Kirchheim auf eine lange Geschichte zurückblickt. Aber auch was Migration angeht, passierte hier einiges. Das macht Stadtarchivar Dr. Joachim Brüser deutlich. Auch wenn das Thema heutzutage oft in den Medien anzutreffen ist – Migration gab es auch schon vor Hunderten von Jahren, auch in Kirchheim.

„Das Wort Migration kommt vom lateinischen migrare, wandern,“ erklärt Saskia Klingler von der Stadtverwaltung Kirchheim. Gründe, seine Heimat zu verlassen und auszuwandern, gibt es viele. „Wenn man sich in ein Land verliebt und auswandert, dann verlässt man seine Heimat freiwillig,“ sagt sie, „aber das ist nicht immer so.“ Das Gegenstück dazu ist die erzwungene Migration. In Kirchheim gibt es inzwischen über 100 Nationen. Egal ob freiwillig oder unfreiwillig, sie sind ein Teil der Stadt.

„Seit dem Mittelalter ist Migration in Kirchheim ein großes Thema“, erklärt der Stadtarchivar. Damals war es für Gesellen Pflicht, zur Wanderschaft aufzubrechen. „Es war ihnen vorgeschrieben, wie lange sie an einem Ort arbeiten müssen. Das wurde dann in Wanderbüchern dokumentiert,“ sagt Joachim Brüser und zeigt auf einen Auszug aus so einem Buch. „Der Großteil der Gesellen kam nicht aus Kirchheim. Sie waren somit Ausländer.“

Dass auch Herzogin Henriette eine Migrantin, eine sogenannte „Ausländerin“, war, damit hat wohl niemand gerechnet. Denn die nächste Form der Migration war die Heirats- und Witwenmigration, wie Brüser sie nennt. Viele Beispiele dafür gibt es im Kirchheimer Schloss. „Dort wohnten insgesamt sechs Witwen, und alle waren nicht aus Baden-Württemberg.“ Herzogin Barbara Sophie und Herzogin Henriette sind hier die Rekordhalterinnen. Während Barbara Sophie nach kurzer Zeit im Schloss starb, verharrte Henriette über 47 Jahre in ihrer Witwenresidenz. „Und das Kirchheimer Schloss war eine Stadt in der Stadt,“ fügt der Stadtarchivar hinzu. Er erklärt: „Eine Witwe nahm immer ihr komplettes Personal mit ins Schloss. Weitere Migranten kamen also mit jeder neuen Herzogin hinzu.

Vor dem 18. Jahrhundert gab gerade mal einen Auswanderer pro Jahr in Kirchheim. Das änderte sich dann aber schlagartig Anfang des 19. Jahrhunderts. Wirtschaftliche Krisen, Hunger und unerfüllte politische Hoffnung trieben die Kirchheimer ins Ausland. Das Ziel: Russland und gegen später dann die USA. Reisebüros gab es damals noch nicht, dafür aber Auswanderagenturen. Brüser zeigt eine Anzeige des Teckboten: „Solche Agenturen halfen den Leuten von Kirchheim nach Liverpool und dann über den Atlantik in die USA zu reisen.“ Interessant ist auch, dass eine Gruppe von 19 Kirchheimern sich entschied gegen den Strom zu schwimmen. Sie wanderten nach Algerien aus. Von den vielen geflohenen Kirchheimer Juden in der Nazidiktatur hat laut Brüser keiner mehr den Weg zurück in die Fachwerkstadt gefunden. Dafür gewann Kirchheim zehn Jahre später mit zahlreiche Gastarbeitern nicht nur Arbeitskräften, sondern auch kulturellen Einflüsse. „Die Arbeiter sollten wieder zurück in ihr Land, doch viele sind geblieben“, sagt der Stadtarchivar. Damals, wie auch heute, war die Kritik groß. „Diesen Menschen wurde vorgeworfen, dass sie mehr Verkehrsunfälle verursachen.“

Joachim Brüser macht deutlich: Migration muss nichts Böses sein. Im Gegenteil, sie ist bereichernd. Der Stadtarchivar beendet seinen Vortrag mit einem Zitat des ehemaligen Oberbürgermeisters Werner Hauser: „Wir als Stadt können das alles nicht alleine schaffen.“ Zusammenarbeiten ist die Devise.

Bei internationaler Musik der Band „Wüstenblume“ und leckeren Spezialitäten aus verschiedenen Ländern bleibt nun Zeit für Diskussionen.

„Das Schloss war eine Stadt in der Stadt.

Dr. Joachim Brüser

Hier ist Platz für Diskussionen: Saskia Klingler hat ein offenes Ohr für die Anliegen und Geschichten der Besucher.
Hier ist Platz für Diskussionen: Saskia Klingler hat ein offenes Ohr für die Anliegen und Geschichten der Besucher.

Gedanken der Besucher des Frauenwirtschaftstages

„Wir haben so viel und andere haben so wenig und trotzdem sind wir neidisch, auf die die mehr haben. Wir vergessen manchmal, wie schlecht es anderen auf dieser Welt geht.“

„Mir war gar nicht bewusst, wie viele Menschen aus anderen Ländern nach dem Krieg zu uns kamen. Ich finde das so interessant, aber auch schockierend.“

„Menschen mit einer anderen Nationalität sind meistens offen und hilfsbereit. Dann kommst du wieder nach Deutschland und bist geschockt. Du merkst, wie kühl und unfreundlich wir sind .“

„Kannst du dir vorstellen, dass jemand zu dir kommt und dir einfach deine Wohnung, deine Heimat, wegnimmt? Einfach grausam!“

„Ich finde, es sollte mehr Gleichberechtigung und Gerechtigkeit geben. Eine einzige Person braucht doch wohl keine Vierzimmerwohnung für sich allein.“

„Man muss Impulse setzen, damit die Menschen die Dinge aus einem anderen Blickwinkel sehen und anfangen umzudenken. Einen Anstoß muss es immer geben.“sei