Lokale Kultur

Auf Londons eiligster Bühne

Die gebürtige Kirchheimerin Nina Gerstenberger macht in den Gängen der Londoner Subway Musik

Nina Gerstenberger spielt regelmäßig im Londoner Untergrund.Foto: Simone Lindow
Nina Gerstenberger spielt regelmäßig im Londoner Untergrund.Foto: Simone Lindow

London. Quietschende Räder, schallende Ansagen. Züge spucken bunte Trauben von Fahrgästen aus. Kinderwagen, Hündchen und Koffer werden herausgequetscht. Über eine Treppe geht es durch eine lange Passage Richtung Ausgang. Hammersmith Station liegt im äußeren Südwesten der Londoner City. Der Bahnhof ist hell, weil er über Tage liegt, und rege besucht. Um den Bahnhof herum befindet sich eine Einkaufsmeile mit Shoppingmall und Fußgängerzone. Ideal für einen Samstagsbummel.

Aus der Masse von Fahrgästen, die nun die Treppe heraufkommt, sticht eine junge, eher kleine Frau heraus. Schwarz gekleidet, feuerrote Haare, eine Gitarre auf dem Rücken, die ihre Trägerin fast überragt. Nina Gerstenberger ist auf dem Weg zu ihrem Konzert. Das findet allerdings nicht in einem Saal oder Club statt, sondern in den Gängen der Londoner Subway. „Busker“ nennt man die Musiker, die auf dieser eiligen Bühne stehen. Nina Gerstenberger ist seit über einem Jahr Buskerin. Seit ihrer Jugend spielt die gebürtige Kirchheimerin Gitarre, war Mitglied in verschiedenen Bands.

Die Londoner Tube wird täglich von vier Millionen Menschen genutzt. Ein guter Ort, um als Musiker gehört zu werden. Seit 2003 regelt der Tube-Betreiber „London Underground“ mit Hilfe von Castings den Zugang zu den Plätzen in den Bahnhöfen, auf denen die derzeit 350 Musiker spielen dürfen. Die Drehbuchautorin und Songwriterin Nina Gerstenberger erfüllte die hohen Ansprüche und spielt nun auf Londons eiligster Bühne.

Ihr „Pitch“, der Buskingplatz, liegt zwischen der Eingangshalle und den vier Gleisen der District und Picadilly Line. In dieser Station gibt es nur den einen Platz, in anderen, größeren Bahnhöfen manchmal zwei. Zunächst geht es vorbei am Eingangspersonal der Ticketschranken, um zu unterschreiben, dass sie anwesend ist. Nina hat sich hier schon einen Namen gemacht, wird mit Handschlag begrüßt. „You gonna beat them all!“, ruft ihr der Angestellte noch hinterher, „du wirst sie alle umhauen!“

„Ich stelle mich immer hier in die Richtung“, erklärt Nina und deutet zum Treppengang bei den Gleisen. Die Akustik ist besser als links Richtung Ausgang. Dann bückt sie sich und öffnet den Reißverschluss der großen Tasche. Zum Vorschein kommt eine charismatische Gitarre: Ganz knallig funkelt den Passanten ein Union Jack, die britische Flagge, in Gitarrenform entgegen. Ein liebevoller Blick, unsichtbarer Staub wird vom Instrument entfernt, dann stimmt Nina ihre Gitarre mit geübtem Griff.

Als Bühnenbegrenzung dient die nun leere Gitarrentasche, die das Einkommen auffangen soll. „Ganz wichtig – schon ein paar Münzen in die Gitarrentasche zu legen, das ist ein Anreiz zum Geben!“ Kurz räuspern, Schultern gerade halten, dann geht es unvermittelt los.

Die Begrüßung lautet „Hello“ von Oasis, ein Ohrwurm, der gekonnt mit eigener Interpretation gewürzt ist und Nina so richtig in Fahrt bringt. Die Akustik des Durchganges ist im Gegensatz zur Atmosphäre dieser Stelle tatsächlich ausgezeichnet, fast sakral. „John Lennon is not dead“, Titel und erste Zeile des selbst geschriebenen Lieds, schallt mit unerwartet kräftiger Stimme aus der beherzten Musikerin heraus, sodass sich einige Passanten noch einmal umdrehen. Ein älterer Herr drückt in Anerkennung seine Unterlippe nach oben und geht nickend weiter.

Wieder ist unten eine Bahn eingefahren, speit einen Pulk Menschen aus, die den weiß gefliesten Tunnel zum Ausgang entlanghasten. Dazwischen begleitet sie das beschwingte „Itchycoo Park“ der Small Faces als unbemerkter Zeuge die 20 Sekunden von der Treppe, um die Ecke, zu den Ausgangsschaltern. Nina weiß, die Leute bemerken sie, wenn es nur ein Lächeln ist oder ganz eindeutig eine verehrend erhobene Rockerhand, Zeige- und kleiner Finger von der Faust abgespreizt. Und natürlich in Form von Münzen, die bald immer häufiger in die Gitarrentasche klimpern.

Die Einnahmen hängen stark von der Tageszeit und der Stimmung ab. Und vom Standort: Man muss schon sehr hartnäckig sein, um beim Buchen der Plätze auf der Hotline durchzukommen. Dienstag ist Vergabetag für die insgesamt 40 Pitches. Immer zwei Wochen im Voraus können Plätze für eine bis zu vier Stunden gebucht werden.

Am Anfang, erinnert sich Nina, habe sie sich noch um die besten Plätze „geprügelt“ – die bekanntesten Londoner U-Bahn-Stationen. „Aber ich habe ja meinen Job als Drehbuchautorin. Mir geht es eher darum, hier ab und an zu musizieren, nicht da­rum, entdeckt zu werden.“ Dafür eignen sich natürlich Bahnhöfe wie der berühmte Picadilly Circus oder die Pitches im Untergrund der edlen Einkaufsmeile des Oxford Circus. „Doch mir passt dieses ständige Gedränge nicht.“ Hier in Hammersmith erntet die Wahllondonerin immer wieder ein Schmunzeln, wenn sie ein „thank you“ für Münzen mit in die Textzeilen einbaut. „What’s the thank you, morning glory?” wird die Titelzeile des Oasis-Songs den Gegebenheiten angepasst. Danach gibt es ein paar Schluck warmen Tee aus der Thermoskanne für den Hals. Keine langen Pausen, sonst freuen sich die Finger über die Ruhe und fangen an, richtig zu schmerzen. 13 Lieder bereitet die Buskerin vor, die eine Stunde abdecken.

Gerade sind es die ruhig gezupften Klänge von Simon & Garfunkels „Scarborough Fair“, als ein Bullterrier um die Ecke wetzt, der Besitzer mit Silberkettchen und fleckigen Hosen rennt brüllend hinterher. „Scarborough Fair“ ertönt nur noch gedämpft und ohne Text im Hintergrund des Wortgefechts, das nun wiederum zwischen dem brüllenden Mann und seiner wild fluchenden, ebenso lauten Partnerin entstanden ist. Ein kurzes, angetrunkenes Handgemenge der beiden, dann taucht der entlaufene Hund auf und das Trio verschwindet wieder aus dem Blickfeld.

So schnell die aggressive Stimmung aufzog, so unversehens ist sie vorbei. Nina dreht erst jetzt wieder auf ihre eigene Lautstärke. Gott sei Dank passiere so etwas nicht oft. Im Hintergrund bleiben, möglichst unauffällig, nicht plötzlich aufhören zu spielen, kein Blickkontakt. Das sei so ihr Weg, nicht Zielscheibe umschlagender Situationen zu werden, nickt sie dem Gedanken hinterher. Sie spielt sofort weiter – wegen der Pause und der Finger – und stimmt ihr letztes Lied an für heute, auch ein eigenes, das sie schon vor Jahren geschrieben hat: „3 Sides of the Coin“. Nina begleitet es mit energischem Fußrhythmus. Auf dem Foto einer Touristin wird sie verewigt. Diese Musiker im Bahnhof, die gehörten doch zu London dazu, sagt die Dame aus Paris.

Ein Blick in die Gitarrentasche verrät: Es war ein langer, aber auch erfolgreicher Tag heute. Übermorgen geht es weiter, gleicher Bahnhof, für zwei Stunden dann. Zählen wird sie ihre Münzen erst daheim. Jetzt gibt es erst einmal ein Feierabendbier.