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„Mutterle, ich komme wieder“

Wie der Dettinger Schultes-Sohn Rudolf Röhm als 19-Jähriger in den Ersten Weltkrieg zog

Dettingen. Der kürzlich verstorbene Dr. Rolf Röhm aus Kirchheim hat vor einigen Jahren Briefe und Tagebücher seines Vaters Rudolf Röhm aus

der Zeit des Ersten Weltkriegs ausgewertet und zusammengestellt. Entstanden ist ein gut hundert Seiten starkes Heft, das Auskunft gibt über fünf Jahre Lebenszeit eines jungen Mannes und seiner Familie in Dettingen – über die Euphorie bei Kriegsausbruch, über die Hysterie beim Enttarnen vermeintlicher Spione, über den Versuch, möglichst früh selbst als Soldat ins Feld zu ziehen, über tatsächliche Erlebnisse im Alltag des Stellungskriegs sowie schließlich über die Gefangennahme und über das lange Ausharren in englischer Gefangenschaft.

Rolf Röhm selbst berichtete, als er das Heft und Fotos seines Vaters in der Teckboten-Redaktion vorbeibrachte, von seiner eigenen Spurensuche. Gemeinsam mit seinen beiden Schwestern hatte er sich vor ungefähr 20 Jahren auf die Reise nach Nordfrankreich gemacht. Den Ort der Gefangennahme ihres Vaters hatten die drei Reisenden bei Cuvillers nördlich von Cambrai ziemlich genau gefunden. Was Rolf Röhm letztes Jahr aber noch als „erschütternd“ in Erinnerung hatte, war ein kanadischer Soldatenfriedhof, etwa vier Kilometer entfernt, mit rund 250 Gräbern: „Fast alle Kreuze hatten als Sterbedatum denselben Tag, an dem mein Vater gefangen genommen wurde. Mein Vater war MG-Gruppenführer, und ich weiß nicht, wie viele dieser 250 Soldaten auf das Konto meines Vaters gingen.“ Auf der anderen Seite machte Rolf Röhm damals im Gespräch eine Art „Gegenrechnung“ auf, indem er feststellte: „Aber er hat dabei ja auch um sein eigenes Leben gekämpft.“ Genau diese Gegenüberstellung zeigt das Dilemma auf, mit dem sich jeder Soldat im Krieg auseinan­dersetzen muss.

Bei Rudolf Röhm ging es sogar so weit, dass er gleich in beiden Weltkriegen als Soldat im Einsatz war: 1943 ist er als Major und Bataillonskommandeur in Stalingrad gefallen. Sein Sohn gab 2014 folgende Einschätzung von sich: „Mein Vater war kein Nationalsozialist, aber er war ein überzeugter Nationalist. Er glaubte tatsächlich, gegen die Feinde Deutschlands kämpfen zu müssen. Er glaubte, dass er seine Familie, seine vier Kinder, gegen Feinde verteidigt. Er ist also für seine Ideale eingestanden und gestorben – auch wenn man diese Ideale heute sehr stark hinterfragen würde, gerade wenn sie sich auf ein Land mit ausgesprochenen Expansionsgelüsten beziehen.“

Im Vorwort zu den Erinnerungen seines Vaters bringt Rolf Röhm ganz ähnliche Gedanken zum Ausdruck: „Manches wird dem heutigen Leser, aufgewachsen unter ganz anderen politischen und ethischen Bedingungen, fast unvorstellbar erscheinen. Vaterlandsliebe, Idealismus, Einsatzbereitschaft mit Gut und Blut, Einstellungen zu anderen Nationen und generell zum Krieg haben heute – nicht zuletzt unter dem Einfluss des Zweiten Weltkriegs – eine ganz andere Bedeutung. Ich habe die Umwertung vieler Werte in meinem Leben miterlebt.“

Sein Vater Rudolf Röhm hatte innerhalb von fünf Jahren eine gewaltige „Umwertung“ erlebt: Die Umwertung von der Kriegsbegeisterung im Sommer 1914 bis zur bitteren Einsicht in die Niederlage, zu der er im englischen Kriegsgefangenenlager in Oswestry, nahe der walisischen Grenze, gelangen musste. Dort beginnt er im Juni 1919 mit der Niederschrift seiner Kriegserlebnisse. Und deshalb fällt auch die Beschreibung des ersten Mobilmachungstags – wie er ihn am 2. August 1914 in Dettingen erlebt hat – in der Rückschau bedeutend nüchterner aus, als das fünf Jahre zuvor der Fall gewesen wäre: „Eine Aufregung herrschte im Dorf wie nie, alles besprach die Lage und als noch spätabends allerlei schlimme Gerüchte laut wurden, war neben aller Begeisterung ein leiser Zweifel am Sieg.“

Wahrscheinlich ist der „leise Zweifel am Sieg“ erst dadurch in den Text geraten, dass es 1919 nicht mehr den geringsten Zweifel an der Niederlage gab – allenfalls an den Ursachen der Niederlage, nicht aber an der Tatsache. Und trotz allem erinnert sich der 21-jährige Kriegsgefangene noch allzugut an die Kriegsbegeisterung, die ihn mit 16 Jahren erfüllt hatte: „Das ganze Volk, jung und alt, war derart begeistert, dass sich alles freiwillig zu den Waffen meldete. Auch ich wollte dazu, aber leider, leider liess es mein Vater nicht zu. Harte Kämpfe erforderte es, bis ich meinem Wunsch entsagen konnte.“

Der Vater, der sich da gegenüber dem 16-jährigen Sohn durchsetzte, war Gottlob Röhm, von 1888 bis 1922 Schultheiß in Dettingen. Gegen das Stichwort „Spionagegefahr“ war aber auch der Schultes machtlos. Er musste seinen Sohn mit einem Suchtrupp losschicken. In Rudolf Röhms Erinnerungen liest sich das folgendermaßen: „Allüberall tönte das Wort ,Spionagegefahr‘ und erfüllte ängstliche Gemüter mit Angst. Sicherheitswachen an den Ortseingängen wurden gebildet, mit allen erdenklichen Waffen versehen. Wälder wurden durchsucht und die Reisenden angehalten. Ein Chaos ohnegleichen. An eine Durchsuchung des Raigelwaldes erinnere ich mich besonders. Mittags gegen 12 ertönten die Feuerglocken und riefen die Bürger zusammen. Im Raigelwald sind Spionen gesichtet. Auftrag: Sie aufzuspüren. So zu 100 zogen wir los. Mein Vater drückte mir ein Dolchmesser als Waffe in die Hand und liess mich mit.“

Aus heutiger Sicht ist die Furcht vor Spionen im Wald bei Dettingen nicht mehr nachvollziehbar. Aber dennoch kann man es einem 16-Jährigen nicht verdenken, dass er sich für ein so gigantisches Geländespiel unter scheinbar echten Bedingungen begeisterte. Obwohl auch er im Rückblick gestehen muss, dass die Suche nach feindlichen Spionen völlig umsonst war: „Gefunden haben wir ja nichts.“ Und trotzdem sieht es der 21-jährige Kriegsgefangene im Nachhinein noch als eine Vorbereitung auf den späteren Fronteinsatz an: „Aber so die erste Ahnung überkam mich, wie es wohl im Bewegungskriege in dunklen Wäldern zugehen mag.“

Zunächst aber geht es für den jungen Rudolf Röhm nicht in den Ersten Weltkrieg, sondern nach Esslingen, um dort in den beiden folgenden Jahren die Hochschulreife zu erlangen, nachdem er Ende Juni 1914 die Kirchheimer Realschule „nach Absolvierung der Unterprima“ verlassen hatte. Ganz leicht scheint es ihm nicht gefallen zu sein, die Schulbank zu drücken, während doch gleichzeitig das Vaterland zu verteidigen war. So schreibt er denn auch: „Ein Schatten in jener Zeit ist der Heldentod meines Vetters Alfred, der am 31.X. 1914 beim Sturm auf Messines fiel.“

Immer wieder will Rudolf Röhm noch vor dem Schulabschluss in den Krieg ziehen: „Ständig durchzogen war jene Zeit von dem Plan, aktiver Offizier zu werden. Nach vielen Mühen hatte ich die Erlaubnis, aber nun kam ein neues Hindernis. Alle Regimenter waren überfüllt und so scheiterten – vielleicht zu meinem Glück – die Pläne.“ Auch hier zeigt sich wieder, wie die Rückschau so manches relativiert. Direkt während seiner Esslinger Schulzeit dachte Rudolf Röhm wohl eher, dass die Pläne zu seinem Unglück scheiterten.

Ein komplettes Unglück war schließlich der erste Versuch, nach Abschluss der Schule in Esslingen Soldat zu werden: Am 14. August 1916 fuhr er auf eigene Faust und ohne Einwilligung der Eltern nach Isny, um ins Gebirgsbataillon einzutreten. Der Vater beendete diese Episode nach wenigen Tagen, und Rudolf Röhm musste sich zurück nach Dettingen begeben: „Am 20. VIII. kam ich heim, vor meinen Augen und denen meines Vaters ein ehrloser Schuft.“

Im November 1916 kam Rudolf Röhm schließlich „zur Gestellung nach Stuttgart zum Regiment 120“. Es begann eine lange Ausbildungszeit, unter anderem auf dem Truppenübungsplatz bei Münsingen. Im April 1917 ging es abermals nach Isny, und am 5. Juli schreibt der 19-Jährige an die Eltern in Dettingen: „Hier unter uns Soldaten geht zur Zeit das Gerücht, dass wir alle nach Mazedonien unmittelbar nach der Besichtigung kommen. Das wäre fein! Endlich einmal fortzukommen, um alsdann Hellas zu erlösen.“

Hier zeigt sich die Kriegsbegeisterung im Originalton. Die jungen Rekruten wollten eben nicht nur ausgebildet werden. Sie brannten darauf, sich im richtigen Leben an der Front zu bewähren. Aber schon einen Tag später hatte es sich der junge Soldat gründlicher überlegt. Der Kriegsschauplatz gefiel ihm nicht: „Alle vor uns ausgebildeten Mannschaften werden morgen eingekleidet und kommen ins Feld nach Mazedonien vor Saloniki. Jetzt wird es ernst. Da kann es mir auch blühen mitzukommen. Freiwillig gehe ich nicht mit. Dort ist es mir zu heiss, nichts los und lauter Sumpfgelände.“

Tatsächlich sollte es noch etwas länger dauern, bis September 1917, bevor Rudolf Röhm an die Front kam. Zum Abschied schreibt er am 23. September aus Isny nach Dettingen: „Jede Kugel trifft ja nicht und so gehe ich hinaus, für Euch meine Lieben; [...] für Eueren Schutz und Deutschlands Ehre gehe ich fröhlich und guten Mutes.“ Diese Sätze lesen sich heute nicht mehr so leicht und unbefangen, wie sie damals wohl geschrieben wurden. Immerhin aber nimmt Rudolf Röhm die Sorge seiner Mutter „über mein Hinausgehen“ ernst und beruhigt sie: „Mutterle, ich hab die Gewissheit in mir, ich komme wieder.“

In Frankreich angekommen, ist Rudolf Röhm aber immer noch für mehrere Wochen „in Ruh, fern jeder Gefahr, ca. 40 km hinter der Kampfzone“. Der Sohn des Dettinger Schultheißen stellt dafür Vergleiche an. Aus Ribeauville schreibt er am 4. Oktober 1917 an die Eltern: „Man glaubt gar nicht, wie schlecht die französischen Dörfer mit unseren im Vergleich abschneiden. Da ist gar kein System im Bauen. Alte, winkelige Lehmhütten, zum Teil auch ganz schlechter Fachwerkbau; kein Wasser, nur Ziehbrunnen mit ungeniessbarem Wasser. Keine Beleuchtung, von Gas oder Elektrizität keine Spur.“

In einer „erbärmlichen Hütte“ ist der Dettinger in Ribeauville untergebracht. Im Tagebuch notiert er: „Der Besitzer war ein armer Greis, mit dem ich mich oft unterhielt. Sein Sohn diente in Frankreich. Er selbst war ein Engländerhasser. Manchmal gab ich ihm Brot und Essen, auch öfters Tabak, das ihn immer freute.“

So lässt sich der eigentliche Kriegsbeginn für Rudolf Röhm im Herbst 1917 fast idyllisch an. Doch das sollte sich ändern. Noch einmal schreibt er im Tagebuch über einen harmonischen Oktobersonntag: „Endlich bei schönstem Sonnenschein, bei Musik und froher Stimmung fuhr der Zug dem neuen Schicksal entgegen.“ Das Gerücht besagte, es gehe Richtung Flandern. Und damit wurde es nun endgültig ernst: „All unsere Leute wussten, was dies hiess. Sie kannten die Hölle dort oben, das Feuer, Wasser und den Schlamm.“