Kirchheim. Gelegenheit, ein höchst interessantes Ehepaar kennenzulernen, das nicht nur ein gemeinsamer Glaube, sondern auch ein unglaublicher Schicksalsschlag verbindet, gewährte ein aus dem Rahmen üblicher Buchvorstellungen fallen-
der Vortragsabend der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde. Im Kirchheimer Steingau-Zentrum waren dazu nicht nur viele Mitglieder der Baptistengemeinde versammelt, sondern auch andere am Thema interessierte Besucher.
Pastor Günter Öhrich begrüßte die versammelte Gemeinschaft, und Pastor Chris Breuers sorgte als souveräner Übersetzer dafür, dass die in einem beindruckenden Vortrag gewährten Einblicke in die unglaubliche „Kraft der Vergebung“ zumindest nicht durch zusätzliche Verständigungsschwierigkeiten an Gewicht verlieren. Mit einer keine Sprachgrenzen kennenden und dem schwierigen Thema angemessenen Ouvertüre mit dem Titel „Tanz der Wolken“ sorgten Dorothea Deichmann und Kerstin Flag mit gefühlvoll intonierter Klavier- und Querflötenmusik zunächst für die gelungene Einstimmung auf einen nicht einfachen, aber erkenntnisbringenden Abend..
„I Choose to Forgive“ lautet der Titel des 2011 auf den Markt gekommenen Buches von Dr. Dianne Collard, das im Mittelpunkt des denkwürdigen Abends stand und inzwischen auch in der im vergangenen Jahr erschienenen deutschen Ausgabe mit dem Titel „Briefe an einen Mörder“ ungemein stark nachgefragt wird.
Während Pastor Chris Breuers als Dolmetscher den Vortrag der Erfolgsautorin und später auch die ergänzenden Anmerkungen ihres Ehemanns völlig unverfälscht wiedergab und nicht interpretierte, sondern präzise übersetzte, weckt der Titel der überarbeiteten deutschen Buchausgabe möglicherweise andere Erwartungen, als die wohl deutlich näher an der Intention der Autorin liegende Originalausgabe.
Tatsächlich stehen nicht die „Briefe an einen Mörder“ im Mittelpunkt, wie der etwas zu verkaufsorientiert wirkende Buchtitel suggeriert, sondern der lange, ungemein schwere und schmerzhafte Prozess, der es der dreifachen Mutter und fünffachen Großmutter letztlich doch über die Jahre ermöglichte, dem Mörder ihres Sohnes zu vergeben. Dadurch gelang es ihr nicht nur, ihre eigene Trauer zu bewältigen, sondern ihre ganze Familie davor zu bewahren, am Schmerz über dieses sinnlose Verbrechen zu zerbrechen.
In einem nie unterbrochenen Dialog mit dem Gott, der ihr eine so schwere Prüfung gestellt hatte, entwickelte Dianne Collard irgendwann die unglaubliche Kraft, tatsächlich Kontakt zu dem Mann aufzunehmen, der ihren Sohn auf dem Gewissen hat. Trotz der unbegreiflichen Brutalität dieser grausamen Tat lernte sie dank ihres Glaubens, in dem Mann, der ihr alles genommen hatte, irgendwann nicht mehr ein Monster, sondern einen Menschen zu sehen.
Dass sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Mann und andere Familienmitglieder davon überzeugen konnte, so und nur so auf dem richtigen Weg zu sein, war die eindrucksvoll demonstrierte Botschaft eines nachdenkenswerten Abends, der weit über die Lektüre des mit knapp 140 Seiten nicht sehr umfassenden, aber umso gehaltvoller und schwergewichtiger daherkommenden Büchleins hinausgeht.
Denkbar knapp fasste Dianne Collard auch bei ihrem Vortrag in Kirchheim zusammen, was vor über 20 Jahren in Kalifornien geschehen war. Das einzige, was sich ihr damals 23-jähriger Sohn Tim hatte zuschulden kommen lassen war, dass er zur falschen Zeit am falschen Ort war und eigentlich nur einer Kollegin helfen wollte, die nach Feierabend erkennbar große Angst davor hatte, zu ihrem gewalttätigen Mann nach Hause zu fahren. Nachdem der rasend eifersüchtige Mann seine Frau mit mehreren Schüssen im Garten ihres Hauses verletzt hatte, lauerte er ihrem vermeintlichen Liebhaber auf, um ihn mit drei Kopfschüssen förmlich hinzurichten.
Dianne Collards Ehemann Glenn, der sich gezielt nur an die wenigen Männer im Publikum richtete, räumte ein, dass es ihm weit schwerer gefallen sei, dem Mann zu vergeben und damit dem Beispiel seiner Frau zu folgen. Auch ein Pastor und Missionar könne Rachefantasien nicht einfach ausblenden. Er habe aber bald gefühlt, dass er sich mit seiner nicht überwindbaren Bitterkeit immer mehr von seinem Umfeld und vor allem auch von seiner Familie distanzierte. Der Weg der uneingeschränkten Vergebung sei zwar unvorstellbar schwer, aber zuzulassen, dass das Böse nicht durch Vergebung überwunden, sondern durch falsches Handeln noch vergrößert werde und damit noch mehr Leid über eine ohnehin schon hart geprüfte Familie bringe, sei ein zu hoher Preis. Vergebung entschuldige ja den Täter nicht und befreie ihn auch nicht von den Folgen seiner Tat. Sie bedeute nicht Vergessen und sie bedeute erst recht nicht Versöhnung. Sie entschuldige keinesfalls die Tat und bedeute auch nicht, dass Täter straffrei davonkommen.
Der vermutlich in einem Jahr anstehenden Entlassung aus dem Gefängnis sehen daher beide inzwischen mit derselben Einstellung entgegen. Nachdem der Mörder ihres Sohnes inzwischen zum Glauben gefunden habe, hält Dianne Collard es sogar für möglich, künftig mit dem Mörder ihres Sohnes gemeinsam vor Publikum über Vergebung zu sprechen.