Vier Lutherische Messen von Bach in der Kirchheimer Martinskirche
Überbordende Klangfarbenvielfalt

Kirchheim. Bezirkskantor Ralf Sach stellt bisweilen gewagte Konzertprogramme auf. Diesmal standen zum Ewigkeitssonntag alle vier Lutherischen Messen von Johann Sebastian Bach auf einmal auf dem Programm. In der voll besetzten und

dennoch unterkühlten Martinskirche machte sich neben der Vorfreude auf die Musik auch Skepsis breit, ob denn vier Messen mit jeweils dem gleichen Text nicht eine Überforderung für Gehör und Gemüt der Zuhörer wären. Die Begründung, warum er gleich alle vier Messen in einem Konzert präsentierte, gab der Bezirkskantor in seinem Programmblatt selbst. Die Bachmessen zeigen sich in völlig unterschiedlichen Variationen zu ein und demselben theologischen Thema und geben damit einen tiefen Einblick in Bachs Glauben. Zudem hat Bach seine „vier lieben Kinder“ in einem Band zusammengefasst.

Dass das spezifisch Charakteristische und die Fülle an musikalischen Einfällen in der Kirchheimer Aufführung in besonders beeindruckender Weise zum Ausdruck kam, lag zum einen an dem gut präparierten, über 70 Mitglieder zählenden Chor, der mit intensiver und souveräner Gestaltungskraft die vier ­„Kyries“, „Glorias“ und „Cum sancto Spiritus“ zu einem Erlebnis werden ließ. Insbesondere, aber nicht nur das pulsierende „Cum Sancto Spiritu“ der g-Moll-Messe und das strahlende „Kyrie“ der F-Dur-Messe ließen die Herzen aufgehen. Es lag auch am eigens zusammengestellten, dennoch homogenen kammerphilharmonischen Orchester, das mit bestechender Genauigkeit und gewandten Solisten die überbordende Vielfalt der Klangfarben in Szene setzte. Angenehm glückten die Oboen- und Violinsoli, begleitet von einem kultivierten Cellospiel.

Glanzlicht des Abends war die Sopranistin Christine Euchenhofer, die beide „Qui tollis peccata“ mit hoher musikalischer Interpretationskraft umsetzte. Leidenschaftlich präsentierte Alexander Efanov seine Tenorstimme im „Quoniam tu solus“ in der G-Dur-Messe und im „Qui tollis peccata“ in der g-Moll-Messe. Weich und warm sang die Altistin Simone Alex ihre zwei „Quoniam tu solus“-Stücke und ließ, zusammen mit Christine Euchenhofer das „Domine Deus, agnus dei“ zum Genuss werden. Der bisher als exquisiter Sänger in Kirchheim bestens bekannte Winfried Müller konnte bei den Bassarien diesmal nicht so punkten, da fehlte trotz angenehmem Timbre in weiten Strecken der große musikalische Bogen. Diesen zog Ralf Sach mit seinem inspirierenden Dirigat durch alle vier sechssätzigen Messen. Er arbeitete die wuchtige Tiefe der g-Moll-Messe aus und steuerte die durchsichtige G-Dur-Messe filigran. Er lotete die tragische A-Dur-Messe aus und riss alle Interpreten und Zuhörer mit in der feierlichen, erlösenden F-Dur-Messe. Zwischen den Messen las Mareike Schmidts vom Südwestrundfunk moderne Lyrik von Hilde Domin, Rose Ausländer, Annemarie Königsberger und Kurt Marti, die ein weiteres Stimmungsbild und Erklärungen zu den altertümlichen Messetexten lieferten. Die Lutherischen Messetexte haben im Gegensatz zu den katholischen keinen „Credo“- und „Agnus Dei“-Teil.

Bleibt die Frage, ob Ralf Sachs Wagnis, gleich alle vier Lutherischen Messen aufzuführen, aufgegangen ist. Johann Sebastian Bach (1685 – 1750) hätte und hat vermutlich jeweils eine Messe pro Gottesdienst aufgeführt. Aber gewundert hätte ihn diese Frage allemal. Er, der über 1 000 Werke im Laufe seines Lebens geschrieben und mindestens so viele aufgeführt hat, hätte mit dem Thema „Masse“ dieses unorthodoxen Programms keine Probleme gehabt. Für ihn war es auch kein Thema, sich selbst zu kopieren, wie er dies in seinen Lutherischen Messen getan hat. Die Chorsätze und Arien bestehen fast ausschließlich aus Überarbeitungen vorzugsweise bereits vorhandener Kantaten aus seiner Leipziger Zeit, die mit Messetexten versehen wurden. Sie bestechen gerade wegen der sorgsamen Überarbeitungen mit der Variation der Besetzungen und Formen. Eindrücklich brachten die Interpreten in der Martinskirche gerade diese Vielfältigkeit zu Gehör. Eine gewaltige Leistung aller Musiker – musikalisch wie physisch – und natürlich der im Bachschen Klanggewebe schwebenden und am Ende überzeugten Zuhörer.