Kirchheim. Eine „lange Geburt“ hat der neueste Band der Kirchheimer Schriftenreihe hinter sich – was nicht verwunderlich ist, denn wie
gewohnt ist auch Band 37 ein Ergebnis akribischer Forschungsarbeit. Auch inhaltlich geht es vor allem um das Thema Geburt und Geburtshilfe in Kirchheim. Auf über 100 Seiten finden sich Informationen über das Wirken von Hebammen in Kirchheim.
Rosemarie Reichelt ist mit zwei Beiträgen vertreten. Zunächst schreibt sie über die frühe Neuzeit, als die Geburtshilfe noch eine reine Frauendomäne war. Das zeigt sich auch daran, dass Hebammen über Jahrhunderte hinweg die einzigen Frauen waren, deren Wirken dokumentiert wurde. Sie wurden von der Stadt bezahlt und galten somit als Amtspersonen. „Das beginnt mit Bürgermeisterrechnungen von 1524/25“, berichtete die Historikerin bei der Übergabe des neuen Bands im Kirchheimer Rathaus. Vom beginnenden 16. Jahrhundert sei also belegt, dass in Kirchheim zwei Hebammen tätig waren. Eine Frauenangelegenheit sei die Geburtshilfe bis Ende des 18. Jahrhunderts geblieben. Dann wurden in Notfällen auch Männer hinzugezogen – die Wundärzte.
Eine herausragende Gestalt der Geburtshilfe hatte ebenfalls mit Kirchheim zu tun: Friedrich Benjamin Osiander (1759 bis 1822) war in Kirchheim zur Schule gegangen und hat hier auch rund zehn Jahre lang als Arzt und Geburtshelfer praktiziert. 1792 wurde er Professor an der Universität Göttingen. Er machte sich unter anderem durch viele Veröffentlichungen einen Namen sowie dadurch, dass er sich für die Zangengeburt einsetzte. Sein Sohn Christian Friedrich Benjamin hat übrigens eine ganz andere Berühmtheit erlangt, was Rosemarie Reichelt ebenfalls kurz erwähnt: Er heiratete 1813 in eine Tübinger Buchhändlerfamilie ein, und bis heute ist die Osiandersche Buchhandlung nach ihm benannt.
Mit dem Leben und Wirken der Kirchheimer Hebammen im 19. Jahrhundert hat sich Dr. Sabine Widmer-Butz befasst. Einerseits habe der Staat damals die Ausbildung der Hebammen geregelt, andererseits habe er sie verpflichtet, Tagebücher zu führen, berichtete sie bei der Buchübergabe. Für die Geschichtsschreibung ist letzteres ein besonderes Glück: „Insgesamt haben im 19. Jahrhundert etwa 20 Hebammen in Kirchheim gearbeitet. Und von drei Hebammen haben wir noch fünf Tagebücher.“
Friederike Planitz war sogar mehr als ein halbes Jahrhundert lang in Kirchheim Hebamme, von 1847 bis 1898. Allein von ihr liegen drei Tagebücher vor. Überrascht war Sabine Widmer-Butz davon, dass bei den 2 380 Geburten, die Friederike Planitz begleitete, „nur“ 4,7 Prozent der Kinder starben. Die Müttersterblichkeit lag sogar bei lediglich 0,6 Prozent. Dafür gibt es aber eine andere erschreckende Zahl: Um 1850 betrafen mehr als 37 Prozent der Kirchheimer Todesfälle Kinder im ersten Lebensjahr.
Dr. Silvia Oberhauser hat über „Hebammen im Nationalsozialismus“ geforscht. Bereits die Weimarer Republik sei dem Bedürfnis der Hebammen nachgekommen, ihren Berufsstand aufzuwerten. In die Ideologie des Nationalsozialismus habe das aber noch viel besser gepasst. So hätten die Hebammen die Pflicht gehabt, dabei mitzuhelfen, „einen gesunden Volkskörper zu schaffen“. Um „erbgesunden Nachwuchs“ zu erhalten, seien die Hebammen auch dazu missbraucht worden, Kinder der „Euthanasie“ zuzuführen, Menschen von der Fortpflanzung auszuschließen oder Abtreibungen aufzuspüren und zu kriminalisieren.
Peter Treuherz wiederum schreibt über die „Geburtshilfe als Dienst am Nächsten“ im Kirchheimer Wächterheim. 1894 sei die Einrichtung als „Rettungsheim“ für „gefallene Mädchen“ gegründet worden. Später wurde daraus das Kirchheimer Entbindungsheim schlechthin, bis es ab 1948 in den folgenden 20 Jahren von der Geburtsstation im Kirchheimer Krankenhaus verdrängt wurde. „Vor allem im Bewusstsein der Gebärenden“ sei die Versorgung im Krankenhaus wohl besser gewesen, sagt Peter Treuherz zu dieser Konkurrenzsituation.
Drei weitere Beiträge im neuen Band lassen sich nicht mehr dem Thema „Geburt“ zuordnen. Sie schlagen aber einen interessanten Bogen bis hin zum Mittelalter: So hat Dr. Karl Halbauer nachgewiesen, dass es sich – wie schon länger vermutet – beim „Reiterzug“ im Landesmuseum in Stuttgart tatsächlich um den fehlenden zweiten Teil des Anbetungsbilds aus der Kirchheimer Martinskirche handelt. – Ulrich Hauck schreibt über die Entwicklung des Kirchheimer Stadtwalds von 1838 bis 2000 und stellt fest, dass bereits bei der ersten Forsteinrichtung 1838 gute Arbeit geleistet worden sei. Der Wald habe damals für rund 20 Prozent der städtischen Einnahmen gesorgt. Zu 80 Prozent wiederum sei das Holz verfeuert worden. Deshalb habe es vor über 150 Jahren auch nicht so stark werden müssen wie Bauholz.
Stadtarchivar Dr. Joachim Brüser widmet sich noch der Erinnerungskultur an Konrad Widerholt. Widerholt sei nicht nur ein Feldherr des 30-Jährigen Kriegs gewesen, sondern habe sich auch große Verdienste um den Wiederaufbau in und um Kirchheim erworben. Trotzdem sei es erstaunlich, dass noch vor wenigen Jahrzehnten eine Halle, zwei Schulen und ein Kindergarten nach einem Kriegshelden benannt worden seien.