Kirchheim. Carolin S. (Name geändert) ist 18 Jahre alt, 1,74 Meter groß und wiegt 44 Kilo, als sie mit ihrem ersten Freund aus der Magersucht findet. Sie heiratet zehn Jahre später
und bekommt einen Sohn. „Es war eine Bilderbuchschwangerschaft, während der ich uns beide gut ernährt habe“, erinnert sie sich. Doch der Wunsch nach einem zweiten Kind bleibt dem Paar versagt.
Jetzt greift Carolin S. täglich zu Abführmitteln, will nicht dick sein und findet keinen Grund, sich gesund zu ernähren. „Drei Tabletten waren es am Anfang, ziemlich schnell waren es 20. Jeweils morgens und abends“, sagt sie. Ihren hohen Bedarf an Abführmitteln deckt sie in Apotheken aus einem Umkreis von 20 Kilometern ihres Wohnortes, um nicht aufzufallen. Nach zwei Jahren wird sie wegen hohem Gewichtsverlust in eine Klinik wegen Essstörungen eingeliefert. Dort kann sie sich während eines dreimonatigen Aufenthalts aber weiter mit Abführmitteln versorgen: „Ich habe sie abends genommen, bin nachts auf die Toilette im Erdgeschoss, dass es die Schwester nicht merkt. Aber ich habe die Dosis aus finanziellen Gründen auf 20 am Abend reduziert“, erzählt sie. Die Therapie bleibt erfolglos.
Carolin S. schluckt weiter Abführmittel. Hinzu kommt ihr Drang nach Selbstverletzung: Mit der Kante des Bügeleisens fügt sie sich Verbrennungen an ihren Armen zu. Täglich bis zu zehn Mal. Im Sommer wählt sie dafür einen Löffel, erhitzt ihn über einer Kerze und verletzt sich am Bauch:
„Es ist, als würde ein Druck nachlassen, der sich in mir aufgebaut hat. Dabei verschwindet die Wut auf mich selbst und andere. Dieser Schmerz ist zugleich Strafe, weil ich zu viel gegessen habe.“
Der Hausarzt überweist Carolin S. auf eigenen Wunsch an eine Psychotherapeutin, die sie im Jahr 2000 in eine psychosomatische Klinik schickt. Hier zeigt sie erstmals ihre Verbrennungsnarben an Armen und Bauch, auch ihr Mann erfährt jetzt davon: „Wir hatten seit zwei Jahren keinen körperlichen Kontakt mehr und er hat mich nie ohne Kleidung gesehen“, sagt sie. Carolin S. nimmt weiter ab, nach drei Monaten wird ihr der Kontakt zur Außenwelt verboten. Das Klinikgelände darf sie nur verlassen, wenn sie 500 Gramm pro Woche zunimmt. Doch die Therapie scheitert erneut.
Abführmittel und Selbstverletzung bestimmen weiterhin ihr Leben. Ein neuer Entzugsversuch scheitert im Jahr 2002 bereits nach vier Tagen.
Ein Jahr später spürt sie überraschend die wohltuende Wirkung von Schmerzmitteln nach einer zahnärztlichen Behandlung. Da das Präparat verschreibungspflichtig ist, sucht sie nach ähnlichen Substanzen in einer Schlaftablette und findet ein frei verkäufliches Produkt. Zu ihren Abführmitteln und der Selbstverletzung kommen nun noch acht Schlaftabletten am Abend und fünf am Morgen hinzu: „Ich war benebelt, musste aufpassen, dass ich nicht umkippe, aber bin nicht eingeschlafen“, erzählt sie. Trotzdem geht sie regelmäßig zur Arbeit. Weder Chef noch Kollegen sprechen sie in all den Jahren auf ihren Zustand an. Irgendwann nimmt sie eine komplette Packung mit 20 Schlaftabletten: „Nur noch die und dann nie mehr“, lautet ihr Vorsatz. Doch die Wirkung ist härter, als vorhergesehen.
Carolin S. meldet sich bei ihrer Therapeutin, die schickt einen Rettungswagen. Sie weigert sich, den Magen auspumpen zu lassen, bleibt eine Nacht in der Klinik und eine Woche in der Psychiatrie. „Seitdem habe ich nie mehr Abführmittel genommen“, sagt sie. Ihre Ehe ist gescheitert, ihr Sohn lebt wochenweise abwechselnd bei ihr und ihrem Exmann. „Wenn er weg war, war es am schlimmsten“, erinnert sie sich. Nach wie vor nimmt sie Schlaftabletten und verletzt sich selbst. Sie erinnert sich: „Die langsame Wirkung der Tabletten war das Schönste. Ich habe mich nach diesem Gefühl gesehnt.“ Wenn es brenzlig wird, kriecht sie nur noch am Boden, legt die Beine hoch und trinkt viel Wasser: „Dass ich nicht bewusstlos werde.“
Schließlich droht die Therapeutin mit dem Ende der Therapie, falls Carolin S. keine Selbsthilfegruppe besucht. „Ich fand einen Freundeskreis für Suchtkrankenhilfe, den ich bis heute besuche. Im März 2006 ging ich zum ersten Mal hin, wollte weg von den Tabletten, habe die Menge nicht mehr vertragen und bemerkt: Wenn ich so weiter mache, sterbe ich.“
2007 wird sie noch einmal rückfällig, spricht darüber sofort im Freundeskreis, geht zehn Tage zum Entzug und ist jetzt seit drei Jahren und 104 Tagen clean: Carolin S. führt eine Strichliste. Keine Tablette, kein Abführmittel und auch die Selbstverletzung hat sie so gut wie im Griff. „Die Freundeskreise haben mich dort rausgeholt. Ich hätte es ohne diese Gruppe nicht geschafft“, weiß sie heute.
Carolin S. lebt in einer neuen Beziehung und hat etwas zugenommen. „Die letzte Hürde schaffe ich auch noch.“ Ihr Sohn lebt seit 2008 bei seinem Vater, die Beziehung zu ihm ist gut. Was ihr heute noch starke Gewissensbisse macht: „Er hat es länger mitbekommen, als ich dachte.“