Blick auf die erste Seminarwoche auf dem Weg zu mehr Balance im Leben
Achtsamkeit trainieren

Kirchheim. Durch den Seminarraum der AOK Kirchheim flimmert ein Film. Er zeigt einen Geiger, der an einer U-Bahn-Station unverdrossen auf seiner Geige spielt, gut sicht- und hörbar am Fuße einer Rolltreppe. Tausende Menschen gehen vorbei, doch kaum einer bleibt stehen. Was sie nicht wissen: Es handelt sich 


um den Star-Geiger Joshua Bell, der mit seiner 3,5 Millionen Dollar teuren Stradivari ein Konzert wiederholt, das er am Vorabend in der ausverkauften Carnegie Hall dargeboten hat. Die Eintrittskarten gab‘s ab hundert Dollar aufwärts . . .

Die Szene ist ein Beispiel für den „Autopilotmodus“, in dem sich Menschen im Alltag oft befinden. Er ist durchaus praktisch, denn das Gehirn kann sich während einer Tätigkeit anderen Dingen zuwenden. Problematisch ist es aber, wenn man im Autopilotmodus geradezu gefangen ist. Der Modus ist eine Art Gegenteil von „Achtsamkeit“. „Achtsamkeit meint einen ganz besonderen Zustand: eine Art von Besinnung, die entsteht, indem Sie all ihre Aufmerksamkeit auf einen Augenblick richten, um ihn in all seinen Facetten zu erfahren“, heißt es im Begleitbuch zu „Lebe Balance“.

Ziel in der ersten Woche ist, Achtsamkeit im Alltag zu trainieren. Dadurch soll die eigene Befindlichkeit besser wahrgenommen und angenommen werden. Achtsamkeit gilt als eine Art geistiges Werkzeug.

Für die zwölf Teilnehmer, die sich in der AOK zum ersten Kurstermin versammelt haben, birgt der Nachmittag viele Überraschungsmomente. Da gibt es zum Beispiel die Rosinenübung: Ganz langsam wird eine Rosine erst beäugt, dann in den Mund genommen, schließlich im Zeitlupentempo gekaut und geschluckt. Entsprechend intensiv sind die Erfahrungen, die bei dieser Übung gemacht werden: „Anstrengend“, lautet das Urteil einer Teilnehmerin, andere wiederum genießen den „Luxus“, minutenlang nur der Rosine nachspüren zu dürfen.

„Es gibt kein Falsch und kein Richtig“, betont Kursleiterin Anneliese Albrecht. Sie ermuntert dazu, Achtsamkeitsübungen regelmäßig im Alltag zu trainieren. Wissenschaftliche Untersuchungen haben nämlich gezeigt, dass achtsame Menschen weniger stressanfällig sind, zufriedener mit sich und ihrer Umgebung. Sie reagieren besonnener auf die Herausforderungen des täglichen Lebens. Auch unangenehme Gefühle nehmen sie eher als Teil des Lebens hin. Durch Training kann Achtsamkeit zur geistigen Haltung, zur inneren Einstellung werden, so das Konzept der Seminarreihe.

In einer weiteren Übung dürfen die Teilnehmer dem „Orchester der Welt“ lauschen. Fünf Minuten lang geht es nur darum, die gesamte Aufmerksamkeit den Geräuschen zu schenken, die das Leben in den Seminarraum spült. Da ist der surrende Videobeamer, der tickende Wecker, der rangierende Lastwagen, alles Alltagsgeräusche. Es geht nicht darum, Geräusche und Eindrücke zu bewerten, sondern einfach darum, sie ganz bewusst wahrzunehmen. Immer wieder müssen sich die meisten Teilnehmer zwingen, bei den aktuellen Eindrücken zu bleiben beziehungsweise zu den Geräuschen zurückzukehren, nicht allzu weit abzuschweifen. „Das waren die längsten fünf Minuten meines Lebens“, urteilt schließlich eine junge Frau in der Runde. „So was mach ich sonst nie“, wundert sich eine andere über die neue Erfahrung. Alle nehmen sich fest vor, Achtsamkeit bis zum nächsten Treffen zu trainieren. Sie sind entschlossen, immer wieder ihre gesamte Aufmerksamkeit einer einzigen Sache zu widmen über einen gewissen Zeitraum hinweg.

Die Lehre der Achtsamkeit hat ihre Ursprünge in der buddhistischen Tradition. Im Lebe Balance-Begleitbuch gibt es dazu eine kurze Geschichte: Ein Zen-Mönch wurde einmal von einem modernen Menschen gefragt, welche geistlich-religiösen Übungen er pflege. Er antwortete: „Wenn ich esse, dann esse ich. Wenn ich sitze, dann sitze ich. Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich.“ Darauf der Frager: „Das ist doch nichts Besonderes. Das tun doch alle!“ Da meinte der Mönch: „Nein, wenn du sitzt, dann stehst du schon. Und wenn du stehst, dann bist du schon auf dem Weg.“