Noch etwas gewöhnungsbedürftig könnten sie sein, die Straßennamen im Kirchheimer Steingau-Quartier: Benannt sind sie nach dem „1848er“ Friedrich Tritschler sowie nach vier Kirchheimer Persönlichkeiten, die allesamt auf ihre Weise Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet haben: Rosa Heinzelmann, Carl Mayer, Otto Mörike und Paul Schempp. Im „Dritten Reich“ mussten sie alle vier große Opfer bringen für ihre demokratische oder auch christliche Gesinnung, die sie auf Konfrontationskurs mit den Machthabern brachte.
Das Muster der fünf Straßennamen im Steingau-Quartier ist also klar zu erkennen: Es geht um Menschen, die die Demokratie hochgehalten haben und bereit waren, sich gegen das herrschende System zu stellen. Gefahr für Leib und Leben nahmen sie in Kauf, weil ihnen ihre Überzeugung wichtiger war als die Stellung oder die körperliche Unversehrtheit.
Taugen sie deshalb als Vorbilder? Kirchheims Stadtarchivar Dr. Frank Bauer antwortet mit einer Gegenfrage: „Brauchen wir überhaupt Vorbilder – oder gar so etwas wie Helden?“ Seine Antwort fällt klar aus: „In demokratischen Staaten sollte kein Personenkult betrieben werden.“ Allerdings sei es durchaus möglich, vorbildliches Verhalten zu erkennen und anzuerkennen – beispielsweise durch Straßennamen.
Heutige „Helden“ sind nicht mehr unbedingt Staatsmänner und Schlachtenlenker. Auch die Verherrlichung großer Siegen in irgendwelchen Kriegen hat sich oft auf die Benennung von Straßen und Plätzen ausgewirkt. „Das ist aber kein typisch deutsches Phänomen, das gibt es in anderen Ländern auch“, stellt Frank Bauer fest. Straßennamen seien immer auch historische Zeugnisse – darüber, wer oder was zu welcher Zeit als „ehr-würdig“ erachtet wurde.
Häufig sind Straßen nach alten Gewann-Namen benannt, mitunter erkennt man ganze Viertel auch daran, dass fast alle Straßen nach Tieren oder nach Blumen benannt sind. Bei berühmten Persönlichkeiten lassen sich ebenfalls Muster erkennen: Musiker, Maler, Dichter oder Wissenschaftlter.
Fast immer handelt es sich dabei um Männer. „Das ist der Grund, warum es im Steingau-Quartier anders sein sollte“, meint der Stadtarchivar. „Hier sollten Kirchheimer Persönlichkeiten im Mittelpunkt stehen, die man vielleicht nicht so gut kennt wie Schiller oder Goethe. Und es war wichtig, wenigstens eine Straße auch nach einer Frau zu benennen.“
„Hier stehe ich“
Über Rosa Heinzelmann berichtet Frank Bauer: „Sie hatte als Kirchheimer Gemeindeschwester einen Protest an die NS-Volkswohlfahrt formuliert und weigerte sich, diesen Protest zurückzunehmen. Der Gemeinderat hat sie deshalb aus dem Dienst entfernt.“ Bei ihr habe es sich um eine Art Lutherisches „Hier stehe ich – ich kann nicht anders“ gehandelt. Schon ist Frank Bauer wieder bei der Frage nach Vorbildern. Selbst Martin Luther tauge nicht vorbehaltlos als der große zu verehrende Held.
Weiter geht es mit dem Kirchheimer Pfarrer Otto Mörike. Er hatte sich entschieden gegen den Nationalsozialismus gestellt, wenn auch nicht von Anfang an: „Brüche gehören zu vielen Biographien. Selbst Stauffenberg oder Sophie Scholl waren anfänglich noch Anhänger der NS-Ideologie. Wäre Otte Mörike 1933 gestorben, hätte man heute keine Straße nach ihm benannt.“ Für Frank Bauer wäre es auch denkbar gewesen, eine Straße nach Gertrud Mörike zu benennen, die damals in gleicher mutiger Weise ausgesprochen hat, dass sie vom Regime nichts hielt.
Wie bei Rosa Heinzelmann und dem Ehepaar Mörike, gibt es auch bei Paul Schempp, dem Bruder des Flugzeugbauers Martin Schempp, einen theologisch-religiösen Hintergrund für seine Gegnerschaft zum Nationalsozialismus. Als Pfarrer und Religionslehrer musste der spätere Professor 1939 beziehungsweise 1943 von seinen Ämtern zurücktreten.
Ebenfalls aus dem Amt entfernt wurde Schulleiter Carl Mayer, der sich auch als Heimatforscher einen Namen gemacht hat: „Er war da eher volkstümlich als streng wissenschaftlich unterwegs. Das hätte ihn anfällig machen können für die Ideen des Nationalsozialismus“, urteilt Frank Bauer rückblickend. „Aber er ist seinen demokratischen Prinzipien treu geblieben und hat auch später Auszeichnungen und Orden wie das Bundesverdienstkreuz abgelehnt.“
Tritschler und die aufrechten Demokraten
Friedrich Tritschler, Seifensieder und Revolutionär aus Kirchheim, ist der einzige, der zeitlich nicht zu den anderen vier Namengebern der Straßen im Steingau-Quartier passt. Seine demokratische Gesinnung dagegen war ebenso aufrecht wie die seiner jüngeren Nachfolger: 1848/49 hat sich Tritschler ebenfalls unter Einsatz seiner beruflichen Existenz für die Demokratie stark gemacht. Bereits 1859 starb er verarmt im
US-amerikanischen Exil.
Kannten sich Rosa Heinzelmann, Carl Mayer, Otto Mörike und Paul Schempp? Davon auszugehen: „Kirchheim hatte damals gerade einmal 10 000 bis 12 000 Einwohner“, sagt Frank Bauer.
Straßennamen vergibt der Gemeinderat. Genau festgelegte Kriterien gebe es dafür keine, stellt Kirchheims Stadtarchivar Frank Bauer fest. Eine ungeschriebene Regel, von der es nur ganz wenige Ausnahmen gebe, besage aber, dass Personen, nach denen Straßen benannt werden, nicht mehr am Leben sein sollten. vol