Kirchheim. In Erinnerung an den 1. Mai 1933, als die Nationalsozialisten in Deutschland die Gewerkschaften zerschlugen, sagte Sybille Stamm, Linken-Politikerin und ehemalige Landesvorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft verdi: „Anpassung in der trügerischen Hoffnung, man könne überleben ohne Widerstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung, hat sich noch niemals ausgezahlt. Das funktionierte 1933 nicht, ebenso wenig wie heute.“ Nach wie vor gelte die Devise: „Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg.“
Als derzeit „größten und bedrückendsten Skandal in Deutschland und Europa“ bezeichnete Sybille Stamm die Jugendarbeitslosigkeit – vor allem in Griechenland und Spanien, wo derzeit 60 beziehungsweise 56 Prozent der Menschen unter 25 Jahren arbeitslos seien. Aber auch in Deutschland seien im vergangenen Jahr 53 Prozent der Ausgebildeten nur befristet übernommen worden. Sybille Stamm stellt angesichts solcher Zahlen fest: „Wer beklagt, dass zu wenig Kinder geboren werden, dass die Jugendlichen keine Familien gründen wollen, der sollte sich darum kümmern, dass der Jugend solide Zukunftsperspektiven geboten werden.“
Dabei sah die Rednerin auch für die vielen Berufstätigen nicht unbedingt die besten Zukunftsperspektiven: Bereits heute müssten sechs Millionen Rentner mit einer Rente von weniger als 500 Euro auskommen. „Ein Leben lang gearbeitet und dann am Tropf von Hartz IV hängen – das ist zutiefst entwürdigend.“ Die Mindestlohnforderung von 8,50 Euro pro Stunde sei deshalb zu gering. Um später von der Rente leben zu können, müsse der Mindeststundenlohn jetzt schon bei zehn Euro liegen.
Die Forderung nach Lohnerhöhungen in Deutschland werde inzwischen sogar von der EU-Kommission gestellt, meinte Sybille Stamm. „Netto und real“ seien die Löhne in Deutschland in den letzten zehn Jahren gerade einmal um 1,2 Prozent gestiegen. Dadurch sei Deutschland zwar die Nummer eins im Export – aber auf Kosten der Arbeitnehmer in anderen europäischen Ländern: „Wir exportieren damit auch die Arbeitslosigkeit.“
Sybille Stamm träumte in Kirchheim öffentlich von einem Arbeitskampf im Einzelhandel, in dem sich die Bevölkerung an die Seite der Streikenden stelle – und zwar so lange, bis die Arbeitgeber einknicken, die Manteltarife wieder in Kraft gesetzt werden und außerdem eine fünfprozentige Lohnerhöhung sowie die unbefristete Übernahme aller Auszubildenden ausgehandelt sei. Sybille Stamm forderte auf dem Weg, ihren Traum zu verwirklichen, die Abschaffung der Hartz IV-Gesetze, ein verlässliches Kündigungsschutzgesetz, eine gesetzliche Reduzierung der Leiharbeit und eine Regelung um zu verhindern, dass Betriebspraktika feste Arbeitsplätze verdrängen.
Dass immer mehr Menschen bei schlechten Löhnen und unter schlechten Bedingungen arbeiten müssen, obwohl die Lebenshaltungskosten ständig steigen, hatte zuvor bereits der DGB-Ortsverbandsvorsitzende Wolfgang Scholz beklagt. Wer 8,50 Euro in der Stunde verdiene, komme im Monat auf weniger als 1 500 Euro brutto. Und die Steuern dafür seien in Deutschland abzuführen und nicht etwa in der Schweiz oder auf den Virgin Islands.
Außerdem erinnerte Wolfgang Scholz an den 1. Mai 1933 in Kirchheim. Hier sei es zur Stürmung eines Gewerkschaftshauses und zur Verhaftung von Gewerkschaftern gekommen. Außerdem habe die Stadt Kirchheim dem NS-Kultminister Christian Mergenthaler und dem NSDAP-Reichsstatthalter Wilhelm Murr die Ehrenbürgerwürde verliehen. Der DGB-Ortsverband fordere, diesen beiden führenden württembergischen Nationalsozialisten posthum die Ehrenbürgerwürde zu entziehen.
Umut Bodur vom Vorstand des Vereins Türkisches Volkshaus rief zum „Kampf gegen Rassismus und Faschismus“ auf. Er forderte eine lückenlose Aufklärung der NSU-Morde und stellte fest: „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.“ Außerdem erwähnte er, wie in Istanbul Demonstrationen zum 1. Mai mit allen Mitteln verhindert werden. Von einer Regierung, die die Demonstrationsfreiheit einzuschränken versuche, distanzierte er sich deutlich.
Abschließend ging Jürgen Groß von der IG Metall Esslingen auf die Warnstreiks ein, die morgen beginnen sollen und sich bis Anfang Juni zu einem echten Arbeitskampf ausweiten könnten. Die Forderung nach einer Lohnerhöhung um 5,5 Prozent sei alles andere als überzogen. In der Gesamtsumme würde das lediglich bedeuten, dass die metallverarbeitende Industrie ein Fünftel ihrer Gewinne an die Arbeiter weitergebe.