Reihe „Geschichte und Gegenwart“ in der Kreissparkasse Kirchheim
Auf Spurensuche jüdischen Lebens

Detektivarbeit leistet, wer sich auf die Spuren der jüdischen Gemeinde in Kirchheim begibt. Wenige Quellen zeugen davon, wo und wie die jüdischen Familien in der Teckstadt lebten. Im Rahmen der Vortragsreihe „Geschichte und Gegenwart im Landkreis Esslingen“ beleuchteten drei Experten das Schicksal der Juden im Mittelalter und der frühen Neuzeit.

Kirchheim. Zum zehnten Mal bereits begrüßte Kreisarchivar Manfred Waßner zu der Vortragsreihe, die sich eine große wie treue Zuhörerschaft erworben hat. Dieses Mal – aus Anlass des Jahrestreffens des Arbeitskreises Alemannia Judaica in Kirchheim – gastierte die historische Reihe an einem Samstag mit passendem Thema im Manfred-Henninger-Saal der Kreissparkasse Esslingen-Nürtingen in Kirchheim, deren Stiftung diese Veranstaltung unterstützt.

Wenn es um das spätmittelalterliche Kirchheim geht, dann fällt in der Teckstadt oft sein Name: Dr. Rolf Götz. Der Weilheimer beleuchtete an diesem Abend die leidvolle Geschichte der jüdischen Gemeinde im 14. Jahrhundert. Denn auch in der Teckstadt loderten 1348 die Scheiterhaufen: Im Dezember 1348 fand die gesamte jüdische Gemeinde in einem Pogrom den Tod, die Mitglieder wurden getötet und bei Dettingen verbrannt. Indes gibt es zu diesem schwarzen Tag unterschiedliche Datierungen. So spricht der Chronist Heinrich von Dießenhoven zwar vom Stuttgarter Pogrom im November desselben Jahres, in der Auflistung der nachfolgenden Ausschreitungen, die sich wie im Funkenflug im Stuttgarter Umland und im ganzen Königreich verbreiteten, wird Kirchheim nicht genannt. Auch in jüdischen Memorbüchern ist der Übergriff auf die nachgewiesenermaßen vorhandene Gemeinde der Juden in der Teckstadt nicht verzeichnet. In einer Sammlung von Schriften des Fürststiftes Kempten wird hingegen von der Ermordung bereits für das Jahr 1302 berichtet. Das hält Götz jedoch für einen Übertragungsfehler des Schreibers: „Die Parallelquelle, die Stuttgarter Analen, ordnet dieses und danach genannte Ereignisse später ein“, berichtete er.

Nach diesem Datum werden die Spuren der Juden im Königreich rar. Nur 15 jüdische Steuerzahler zählte man in ganz Württemberg. In Kirchheim weisen Einträge in der Stadtgerechtigkeit von 1490 zum Verkauf jüdischen Fleisches auf die Anwesenheit jüdischer Familien. Auch ein Geleitbrief von Graf Ulrich für den Juden David 1459 ist einer der wenigen Quellen dafür. Jedoch mit dem Vollzug des Testamentes von Graf Eberhard im Bart 1498 werden alle Juden des Landes verwiesen.

Erst unter Herzog Friedrich öffnet sich der Staat wieder zögerlich für die jüdischen Kaufleute. Doch mit seinem früh-absolutistischen Kurs stößt der württembergische Herrscher weder bei der Landschaft noch bei Kirche und Kronrat auf Gegenliebe. Seine Versuche, eine jüdische Niederlassung im Herzogtum zu etablieren sorgte 1598 für einigen Wirbel beim Establishment, wie der Göppinger Kreisarchivar Dr. Stefan Lang darlegte. Gegen die Widerstände räumte Friedrich dem Kaufmann und Konsul Maggino Gabrielli eine Niederlassung im Neidlinger Schloss ein. Gabrielli, der über Württemberg einen Handel mit Luxusgütern aufziehen wollte, jedoch scheiterte. Wie der Historiker vermutet, aufgrund der restriktiven Auflagen, die Friedrich der Handelsgesellschaft machte und wegen klammer Geldmittel, wie eine Darlehensanfrage über 10 000 Gulden bei Hofe belegt.

Mit Spannung erwartete das Publikum den Vortrag von Professor Andreas Lehnardt von der Universität Mainz, den Experten für hebräische Schriften in Deutschland und Leiter von „Genizat Germania“. In diesem Forschungsprojekt werden bisher verborgene hebräische Einband- und Makulaturfragmente gesammelt und untersucht, wie sie unter anderem auch im Kreisarchiv Esslingen sowie in Kirchheim und Weilheim bei Buchrestaurationen schon entdeckt wurden.

Alte Pergamente zu „recyceln“ war nach Auskunft des Fachmanns bei den Buchbindern früher keine Seltenheit. Mit ihnen verstärkte man Akten oder Lagerbücher, Kataster oder Rechnungsbücher. Dass sich darunter auch religiöse hebräische Handschriften finden, ist für Lehnardt nicht nur durch die Plünderungen der Judengassen wie beim Fettmilch-Pogrom in Frankfurt dokumentiert zu erklären. Obwohl es den Glaubensgrundsätzen widerspreche, fromme Texte – insbesondere mit Nennung des Gottesnamen – zu verkaufen, sei dies nachweislich geschehen: Oft aus der schieren Not heraus, wie Lehnardt betont, vor allem zu Zeiten des 30-jährigen Krieges.

Die Fragmente aus Esslingen, Kirchheim und Weilheim, die derzeit im Kirchheimer Rathaus ausgestellt sind, zählen für Lehnardt zu den besonderen Fundstücken. Bei dem Fragment aus dem Kreisarchiv handle es sich um eine Bibelhandschrift, die mit Gebetsbüchern aus dem Jahr 1390 in Verbindung gebracht werden könne, so der Mainzer Experte. Das Interesse der Forscher aus Israel und den USA an den Funden aus dem Landkreis, die mit der Werkstatt des Kirchheimer Buchbinders Jakob Well in Verbindung gebracht werden, sei groß, die Forschung „elektrisiert“, auch angesichts der Größe des Esslinger Fragmentes. Der Kommentar Raschis sei – ungewöhnlich – als dritte Kolumne neben den Bibeltext gesetzt und deute auf enge Verbindungen nach Norditalien hin und diente dem Studium. Wie der Text in den Einband des Lagerbuches im 17. Jahrhundert gelang, lässt sich aus Sicht des Fachmanns nicht klären. Gleiches gelte für die Fragmente aus Kirchheim und Weilheim.

Alle zehn Fragmente aus dem Landkreis zeugen wie die anderen 1 000 Fragmente, die im Rahmen des Gezinat-Projektes in Deutschland inzwischen zusammengetragen wurden, von der reichen jüdischen Schriftkultur aschkenasischen Judentums Ausgang des Mittelalters. „Im Gegensatz zu den Christen waren die Juden eine lesende Gesellschaft“, machte Lehnardt klar. Bis zur Bar Mitzwa konnten die Jungen den hebräischen (nicht vokalisierten) Tora-Abschnitt und die Haftara lesen.

Als Dreingabe versuchte Dr. Götz die Herkunft des Namens Heidenschaft für das Quartier Wellingstraße, Turmstraße und Dreikönigstraße zu klären. Bereits in den Steuer- und Lagerbüchern des 16. Jahrhunderts findet sich diese Begrifflichkeit. Mit der jüdischen Gemeinde lässt sich für ihn der Name nicht schlüssig verbinden. Naheliegend sei vielmehr eine Verbindung zur (fabulierten) Geschichte um die Schlacht zwischen dem Herzog von der Teck und den Heiden, die zur Gründung Kirchheims geführt haben soll. „ich weiß, es ist wacklig“, gab der Historiker zu, der damit den Anstoß geben will, in der Sache weiter zu forschen. „Denn es ist wirklich ungewöhnlich, dass es in Kirchheim diesen Namen gibt“, stellt Götz fest. In anderen Städten verweist der Name nämlich zumeist auf vorchristliche Ansiedlungen wie der Römer.