Kirchheim. Das Tagespensum kann sich sehen lassen: Forsteinrichter Thomas Lehn von der Forstdirektion Tübingen ist mit Kirchheims Revierleiter Daniel Rittler täglich 20 bis 25 Kilometer kreuz und quer im Berg- oder Talwald unterwegs. Dabei schreckt die beiden weder schlechtes Wetter noch undurchdringliches Brombeerdickicht ab – wozu gibt es schließlich scharfes Handwerkszeug, mit dem sich jeder Weg freischneiden lässt. Derart dichte Vegetation ist zwar ein Dorado für Zecken, doch Thomas Lehn nimmt die Anhänglichkeit der Blutsauger gelassen hin. Musste er vergangenes Jahr im Durchschnitt täglich 15 bis 20 Spinnentiere aus seinem Körper ziehen, sind es heuer nur ein bis zwei.
Der Forstmann mit Leib und Seele kann auf eine langjährige Berufserfahrung zurückgreifen, ein Blick genügt, und er weiß, ob der Revierförster in den vergangenen Jahren seinen Job gut gemacht hat oder das eine oder andere schleifen ließ. „Vagabundierend“ ist er im Ländle unterwegs, von Südbaden bis ins nördliche Baden-Württemberg kennt er sämtliche Wälder. „Ich lerne jedes Jahr mindestens zehn Forstkollegen kennen“, freut er sich auf die Begegnungen. Auch eine gewisse Neugier auf neue Waldbilder macht für ihn seinen Job interessant. Das „filigrane Rheintal“ unterscheidet sich beispielsweise stark von der rauen Alb. Dazu kommen neue Einflüsse und Umweltbedingungen, die sich schwer fassen lassen, etwa der Winddrift der Ballungsräume. Dank des vorherrschenden Westwindes bekommen die Wälder rund um Kirchheim auch die Emissionen der Region Stuttgart zu spüren.
Sechs Wochen ist Thomas Lehn im Kirchheimer Forst unterwegs. Rund 730 Hektar Fläche gilt es in dieser Zeit zu erfassen. Bewaffnet mit Infrarotbildern und Listen kämmt er allein oder zusammen mit Daniel Rittler in 30-Meter-Abständen die Walddistrikte durch. Dabei erfasst er den Istzustand mit sämtlichen Bäumen, Biotopen oder Schutzgebieten, hält gleichzeitig aber auch Rückschau und plant die nächsten zehn Jahre. „Wir wollen den Wald in natürlichem Rhythmus halten“, erklärt der Forsteinrichter. Im Durchschnitt dauert es etwa 130 Jahre, bis eine Fläche abgeholzt und dann neu bepflanzt wird, je nach Baumart schwankt dieser Zeitraum zwischen 80 und 200 Jahren. Naturverjüngung ist den Förstern wichtig. Bis zu 100 000 kleine Bäumchen können sich auf einem Hektar Wald ansiedeln, in einem alten Bestand reduziert es sich dann auf 100.
„Irgendwann sind die Bäume alt und mürb. Derartige Wälder sind zwar ökologisch wertvoll aber nicht ökonomisch. Wir wollen die Bäume als Holz nutzen, anstatt verfaulen zu lassen“, begründet Thomas Lehn die systematische Arbeit des Forsts. Zum Wertholz zählen beispielsweise Eichen, Buchen oder Bergahorn. Letzterer ist gar ein Charakterbaum für den Kirchheimer Wald. Damit für die Möbelindustrie schönes, auf fünf bis zehn Meter Stammhöhe astfreies Holz in Form des sogenannten Zukunftsbaums heranwächst, sind Pflegearbeiten nötig. Das heißt, der Baumbestand wird reduziert.
Auch wenn die Förster in langen Zeitabständen denken und handeln, ist ihre Arbeit dem Zeitgeist und auch Moden unterworfen. Lange Zeit galt die Fichte als „Brotbaum“, der dem Waldbesitzer ein gewisses Einkommen sicherte. Weil die flachwurzeligen Nadelbäume jedoch quadratkilometerweise den Stürmen Wiebke und Lothar zum Opfer fielen und auch mit den steigenden Temperaturen nicht gut klarkommen, fand ein Umdenken statt. Mittlerweile ist die tiefwurzlige Tanne gefragt, die mit den sich verändernden Umweltbedingungen wesentlich besser zurechtkommt. „Trotzdem sollten wir die Fichte nicht ganz aus den Augen verlieren. Wir brauchen sie, und auf bestimmten Standorten passt sie weiterhin“, ist der Oberforstrat überzeugt.
Vieles muss er in seinem Zehn-Jahres-Plan berücksichtigen. Dazu zählt auch die Bodenqualität, denn nicht jeder Baum gedeiht in jeder Erde gleich gut. Warum aber die aus Nordamerika stammende Douglasie, die als zukunftsfähiger Nadelbaum gilt, in Kirchheim nicht wächst, ist auch dem erfahrenen Förster ein Rätsel.
Ihren Ursprung hat die Forsteinrichtung Mitte des 18. Jahrhunderts. Der Sachse Hans Carl von Carlowitz prägte 1713 erstmals den Begriff der Nachhaltigkeit. Der zentrale Satz seiner „Sylvicultura oeconomica, oder haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur wilden Baum-Zucht“ besagt, dass aus dem Wald nicht mehr Holz herausgeholt werden soll, als nachwächst. „Die Wälder waren damals weitgehend ausgeplündert und licht. Sie waren parkähnlich, denn auch das Vieh wurde hineingetrieben und sorgte für Verbiss“, gibt Thomas Lehn einen historischen Rückblick. Die Bäume wurden für Salinen, Schiffe, Berg- und Holzbau oder Brennholz gerodet. Welch enormer Bedarf an Holz damals herrschte, zeigt der Forsteinrichter an einem Beispiel auf: Für ein einziges Kriegsschiffs benötigten die großen Flotten Englands oder Frankreichs allein 10 000 Kubikmeter Holz.
„Legt man die heutige Ausdehnung der Wälder in Deutschland zugrunde, waren damals nur noch 20 Prozent dieser Fläche bewaldet“, verdeutlicht der Forsteinrichter die dramatische Lage damals. Da dieser Rohstoff die einzige Energiequelle war – Erdöl war noch unbekannt – sorgte die beginnende Industrialisierung für weiteren Bedarf. „Plötzlich stand der Wald im nationalen Interesse. Er war den Verantwortlichen so wichtig, dass die Förster Beamtenstatus bekamen, also unabhängig von finanziellen Interessen waren“, erläutert Thomas Lehn. Im Jahr 1848 wurden in Württemberg die ersten Forstgesetze beschlossen, in Baden geschah dies schon 1833. Am Grundsatz der Nachhaltigkeit hat sich seitdem nichts verändert, es sind sogar noch einige Aufgaben für das Ökosystem hinzugekommen. Seine Nutz-, Schutz- und Erholungsfunktion ist im Landeswaldgesetz fest verankert.