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Auszüge aus der Rede von Pfarrer Ulrich Müller

„Wie viel Vergangenheit verträgt die Gegenwart? Meine erste Entdeckung: Sie verträgt erstaunlich wenig, wenn sie mit Schuld belastet ist.
An schlimme, grausame Taten, Erlebnisse und Ereignisse erinnern wir uns nicht gerne. Sie kommen allerdings, das zeigt die Geschichte der Stele, immer wieder in Erinnerung. Und wenn Menschen darüber diskutieren, ob man solche Dinge nicht einfach vergessen sollte, dann zeigen die vorgebrachten Gründe fast immer eine Form von Verdrängungsmechanismus.
Die Argumente für das Vergessen lauten ungefähr so: ,Das ist schon so lange her!‘ – ,Wir haben doch nichts mehr damit zu tun!‘ – ,Warum müssen wir uns immer selbst zerfleischen? Typisch deutsch!‘
Verschweigen, verharmlosen, verdrängen . . .
Aber wir wissen auch, dass Geschichte ein langes und auch ein gutes Gedächtnis hat. Zur Gestaltung der Gegenwart und Zukunft bedarf es der Erinnerung an Vergangenes. Nur so können Gegenwart und Zukunft human und dem Buchstaben und Geiste unseres Grundgesetzes entsprechend gestaltet werden, tragen wir Sorge dafür, dass Menschenwürde und Menschenrechte geachtet werden. Mit Worten von Bundestagspräsident Norbert Lammert ausgedrückt: ,Die Lehren aus dem Holocaust zu ziehen – das gehört zum Grund- und Gründungsbewusstsein dieser zweiten deutschen Demokratie.‘
Wie viel Vergangenheit verträgt also die Gegenwart? Meine zweite Entdeckung: Wir vertragen viel mehr Vergangenheit, wenn wir uns ihr stellen und uns den Herausforderungen, die uns durch sie gegeben sind, nicht verweigern.
Wenn ich als Pfarrer heute zu Ihnen spreche, dann will ich auch nicht verschweigen, dass es auf die gestellte Frage ,Wie viel Vergangenheit verträgt die Gegenwart?‘ auch eine religiöse Komponente für die Antwort gibt: ,Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern‘, so beten viele Menschen regelmäßig.
 Die Möglichkeit, Schuld einzugestehen und Schuld zu vergeben, ist kein ,Unter-den-Teppich-Kehren‘, sondern eine Hinwendung schuldig gewordener Menschen zu Gott, von dem wir glauben, dass er uns gnädig bleiben will.
Die Angst, Schuld einzugestehen, kann nur überwunden werden, wenn wir glauben können, dass Gott dennoch zu uns steht. Trotz unserer Schuld.
Dann müssten wir uns nicht mehr rechtfertigen mit irgendwelchen Argumenten. Dann könnten wir den Mut aufbringen und den Fakten ,ins Auge sehen‘.
Darin wäre Hoffnung verborgen für die Zukunft, die Hoffnung, dass wir trotz schuldhafter Vergangenheit ein Recht und eine Pflicht behalten, das Leben miteinander im Frieden zu gestalten. (. . .)“