Wiesensteig. In Wiesensteig kochen seit einigen Wochen die Emotionen hoch. Das Helfensteiner-Städtle ist tief gespalten – und zwar in Gegner und Befürworter des Baumwipfelpfads. Die Befürworter aus der Bevölkerung allerdings waren bislang öffentlich noch nicht in Erscheinung getreten. Doch das änderte sich jetzt: So hat sich in den vergangenen Tagen eine Befürworter-Gruppe zusammengetan, die Argumente für den Baumwipfelpfad gesammelt und diese in einem Flyer festgehalten hat. Die Flyer mit „zehn guten Gründen für den Baumwipfelpfad“ und „für ein lebendiges Wiesensteig“ verteilte die Gruppe an alle Haushalte im Städtchen. Aufgelistet sind in dem Faltblatt außerdem die Namen von 120 Wiesensteiger Bürgern, die sich öffentlich für das umstrittene Projekt aussprechen.
An der Spitze dieser Gruppe steht neben anderen Siegbert Ruf. „Bisher ist immer nur Negatives zum Baumwipfelpfad vorgetragen worden – und zwar zum Teil auch auf sehr aggressive Weise“, ärgert sich der 68-Jährige. „Deshalb wollen wir nun die andere Seite der Medaille beleuchten.“ Denn der Baumwipfelpfad sei eine Chance für Wiesensteig, betont Siegbert Ruf.
Seine Heimatstadt könnte insgesamt „mehr Leben gebrauchen“, ist der ehemalige Wiesensteiger Stadtrat überzeugt. „Wiesensteig ist am Aussterben, wenn man den Einzelhandel anschaut.“ Früher habe es eine Vollversorgung mit Lebensmitteln gegeben, doch diese Zeiten seien längst vorbei. „Mit jedem Laden, der geschlossen wurde, zog auch die Kaufkraft ab.“ Wenn aber die Straßen stärker frequentiert und wieder mehr Menschen im Ort unterwegs wären, „dann lohnt es sich wieder für den ein oder anderen Geschäftsinhaber, in Wiesensteig zu investieren“.
Der Baumwipfelpfad sei außerdem „ein Garant für nachhaltigen Tourismus“. Wenn sich die Gastronomen mit dem Projekt arrangieren und mit dem Investor zusammenarbeiten würden, dann könnten sie davon profitieren, unterstreicht Siegbert Ruf. Denn der bestehende Baumwipfelpfad in Neuschönau im Bayerischen Wald zeige, dass nicht alle, die den Baumwipfelpfad besuchen, auch im dortigen Gastronomiekomplex essen. „Viele möchten den Besuch des Baumwipfelpfades mit einem Ausflug verbinden und die Region kennenlernen.“ Dazu gehöre auch eine Einkehr in den örtlichen Cafés und Restaurants. „Die Gastronomen in Wiesensteig und Umgebung haben in einem so herrlichen Wandergebiet doch alle Möglichkeiten “, wundert sich Siegbert Ruf über die ablehnende Haltung einiger Restaurantbesitzer. Sie könnten zum Beispiel für Gruppen „Wohlfühlwochenenden“ mit Übernachtung und einem Besuch des Baumwipfelpfades anbieten. Aber dazu gehöre auch Offenheit und Kreativität, gibt der 68-Jährige zu bedenken.
Eines ist für ihn auf jeden Fall sicher: „Wenn in Wiesensteig Gäste vor Ort sind, dann konsumieren sie und lassen Geld da. Das kommt der Gemeinde zugute, und die Steuereinnahmen steigen.“ Auch Weilheim, Neidlingen und Schopfloch könnten vom Baumwipfelpfad und den Touristen profitieren, ist Siegbert Ruf überzeugt. Abgesehen davon, habe der Investor versprochen, Lieferanten aus der Region für seinen Gastronomiekomplex gewinnen zu wollen.
Die zu erwartenden 500 000 Besucher im Jahr – eine Zahl, die von den Gegnern ins Spiel gebracht worden sei – hält Siegbert Ruf im Übrigen für unrealistisch. Der Investor rechne mit jährlich 250 000 Besuchern.
Die Gruppe der Befürworter habe sich nun bei einigen Gemeinden in der Region umgehört, um Vergleichszahlen einzuholen. So werde zum Beispiel die Burg Hohenneuffen im Jahr von 300 000 Menschen besucht und das Thermalbad in Beuren von 600 000. „Diese Ortschaften versinken auch nicht im Verkehrschaos“, sagt Siegbert Ruf. Und selbst wenn tatsächlich 500 000 Menschen im Jahr den Baumwipfelpfad sehen wollten, dann verteile sich der Verkehr immer noch auf drei Richtungen: Die Besucher würden den Pfad über Weilheim/Neidlingen, über Schopfloch und über Wiesensteig anfahren. „Das macht jeweils ein Drittel, also etwa 170 000 Menschen“, rechnet Siegbert Ruf vor. Weil der Baumwipfelpfad 360 Tage im Jahr in Betrieb sei, entspreche das etwa 500 Gästen am Tag. „Wenn dann in einem Auto zwei Leute sitzen, sind das 250 Autos am Tag. Das merken die Wiesensteiger doch gar nicht“, unterstreicht Siegbert Ruf.
Der Baumwipfelpfad bringe darüber hinaus Arbeitsplätze mit sich. Einen allzu großen Eingriff in die Natur sieht der Wiesensteiger durch den Bau des Pfades nicht gegeben. „Der Investor muss äußerst sorgfältig mit dem Waldbestand umgehen. Alles andere kann er sich gar nicht leisten.“ Außerdem benötige er „die Bäume, sonst kann er ja keinen Baumwipfelpfad eröffnen“, verdeutlicht Siegbert Ruf. Der Pfad in Neuschönau jedenfalls füge sich „wunderschön in die Landschaft“ ein. „Er ist fast schon ein architektonisches Prunkstück.“
Nächste Woche will die Befürworter-Gruppe erneut zusammenkommen, um sich Gedanken über weitere Aktionen zu machen, verrät Siegbert Ruf. Denn es sei wichtig, die Wiesensteiger zu mobilisieren und sie vor allem zu ermutigen, beim Bürgerentscheid am 7. Oktober ihre Stimme abzugeben.
„Ohne diesen Entscheid bekommen wir in Wiesensteig keine Ruhe mehr“, sagt Siegbert Ruf. Er hätte es sich nie träumen lassen, dass die Fronten in Wiesensteig einmal so verhärtet sein könnten. „Es ist schade, dass es zum Zwist gekommen ist“, bedauert der 68-Jährige, der auch Parallelen zur Diskussion über Stuttgart 21 festgestellt hat. So sind in Wiesensteig derzeit zum Beispiel Plakate zu sehen, auf denen das durchgestrichene Wort „Baumwipfelpfad“ mit schwarzen Lettern auf gelbem Grund zu lesen ist.
Wie ungut die Stimmung im beschaulichen Wiesensteig ist, wurde auch bei einer Straßenumfrage des Teckboten deutlich: Etliche Wiesensteiger Bürger wollten sich nicht öffentlich zum Thema äußern – aus Angst vor Repressalien.