Neidlingen. Der „Wecken“ ist eindeutig in der Überzahl. Im Internet-Duden sind unter dem Stichwort „Schrippe“ fünf Synonyme angegeben, von denen drei sehr eng miteinander verwandt sind: „Brötchen“, „Wecken“, „Weggen“, „Weggli“ und „Semmel“. In der Buchausgabe bietet der Duden zum „Wecken“ noch zwei weitere Varianten an: „der Weck“ und „die Wecke“.
Für „die Wecke“ hat sich Daniela Strack – eine Berlinerin, die seit 18 Jahren in Neidlingen wohnt – entschieden, wenn sie in ihrer pragmatischen Art Stellung nimmt zur Thierse-Debatte: „Lieber eine Wecke, die schmeckt, als eine Schrippe, die nicht schmeckt.“ Dabei will sie aber nicht grundsätzlich behaupten, dass Wecken schmecken und Schrippen nicht. Es geht ihr viel eher um die Devise „leben und leben lassen“.
Auch „machen lassen“ wäre denkbar. Das heißt auf Französisch „laisser-faire“, was wiederum zu einer anderen Beobachtung Daniela Stracks in der Wecken-Schrippen-Affäre führt: „Der Witz ist, dass es überall in Deutschland Baguette gibt.“ Sie selbst hat aber gegen keinen Begriff und auch gegen kein Gebäck etwas einzuwenden. Sie freut sich vielmehr über den „kulturellen Austausch“, der für Berlin schon lange charakteristisch ist: „Berlin ist schon immer so ein Melting Pot gewesen.“ Eine der wichtigsten Gruppen, die Berlin und die Berliner geprägt haben, seien die französischen Hugenotten, die seit über 300 Jahren in Brandenburg beziehungsweise in Preußen ansässig sind.
Den Hugenotten wiederum haben die Berliner ihre „Bulette“ zu verdanken. Und mit der Bulette verhält es sich ähnlich wie mit der Schrippe: Als Grundnahrungsmittel gibt es dafür sehr viele unterschiedliche Bezeichnungen. Daniela Strack, die gemeinsam mit ihrem Mann Klaus – ebenfalls gebürtiger Berliner – in der Volkstanzgruppe des Schwäbischen (!) Albvereins Neidlingen aktiv ist, hat dort auch erfolgreich die „Bulette“ eingeführt: „Zum Geburtstag bringe ich immer Buletten und Soleier mit.“
Selbstverständlich sagen dann sämtliche Neidlinger Mittänzer ebenfalls „Bulette“. Dabei will Daniela Strack auf keinen Fall sprachlich missionieren: „Wenn da jemand ,Fleischküchle‘ sagen würde, wäre es mir auch recht.“ Der Begriff „Frikadelle“ sei ihr ebenfalls geläufig.
Die „Frikadelle“ stammt übrigens aus dem Italienischen, abgeleitet von „frittatella“ oder auch „frittadella“. Laut Internet-Duden bedeutet das „Gebratenes“ oder „kleiner Pfannkuchen“. Wer je als Schwabe in Österreich eine Flädlessuppe essen wollte, weiß, dass er dort eine „Frittatensuppe“ bestellen muss. Was haben nun Flädla oder Frittaten mit Berlinern in Neidlingen zu tun? Sehr viel, denn das Süßgebäck, das hierzulande als „Berliner“ bekannt ist, heißt in Berlin allenfalls „Berliner Pfannkuchen“. Meistens aber sagen die Berliner der Einfachheit halber nur „Pfannkuchen“. Als Daniela Strack ein halbes Jahr nach dem Umzug nach Neidlingen wieder in Berlin zu Besuch war, verlangte sie in der Bäckerei einen „Berliner“ und wurde dort verständnislos angeblickt.
Wenn sich nun Berliner nach einem halben Jahr in Neidlingen so schnell an die schwäbischen Begriffe gewöhnen, dann wäre das eigentlich Wasser auf die Mühlen des Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Thierse, der ja selbst auch nur ein „rei’g’schmeckter“ Berliner ist. Zur Identifikation mit der neuen Heimat sagt Daniela Strack denn auch ganz klar: „Nach zwei bis drei Jahren sollte man sich im Herzen umgestellt haben.“ Sie selbst habe deshalb schon lange keinen „Koffer in Berlin“ mehr, sondern nur noch ein paar Verwandte in der Hauptstadt.
Am Anfang habe ihr in Neidlingen die Großstadt sehr gefehlt. Mindestens einmal im Monat musste sie nach Stuttgart, um wenigstens ein bisschen Großstadt-Feeling zu erleben. Inzwischen ist sie aber schon so sehr Neidlingerin, dass sie nicht einmal mehr regelmäßig nach Kirchheim kommen muss.
Aber trotz der eigenen Anpassung an das schwäbische Leben in Neidlingen will Daniela Strack den Schwaben in Berlin nicht das Wort „Wecken“ untersagen. Sie empfiehlt höchstens, in dem Moment auf „Schrippe“ umzustellen, „wenn der Verkäufer nur langsam reagiert“. Denn eigentlich seien die Berliner „schnelle Leute“. – Andererseits unterscheidet die Berliner Neidlingerin sehr genau zwischen „Wecken“ und „Schrippen“: „Wecke ist Wecke, und Schrippe ist Schrippe. Das eine ist ein rundes Brötchen, das sternförmig eingeschnitten ist, und das andere ist ein längliches Brötchen mit einem Schnitt in der Mitte.“
Genau nach dieser Einkerbung ist die „Schrippe“ übrigens benannt. Über diese Herkunft weiß der Online-Duden Bescheid, der zur Bedeutung des Worts „Schrippe“ schreibt: „länglich breites, an der Oberseite eingekerbtes Brötchen“. Der Name stamme von dem frühneuhochdeutschen Verb „schripfen“, was „(auf)kratzen“ bedeute. Eigentlich sei „Schrippe“ deshalb die „Bezeichnung für die Einkerbung auf der Oberseite“.
Daniela Strack wusste also auch bei der spontanen Telefonbefragung genau Bescheid, was die Schrippe charakterisiert. In Berlin aber schwört sie gar nicht so sehr auf Schrippen. Sie empfiehlt stattdessen „Schusterjungen“. Dabei geht es nicht um einen Begriff aus der Typografie, sondern um das Berliner Wort für ein eckiges Roggenbrötchen.
Fazit eines Schwaben: „Scho‘ wieder ebbes g’lernt!“