Kirchheim. „When I am laid in Earth“ – mit diesen Worten beginnt einer der ergreifendsten Klagegesänge der klassischen Musik. Die Arie
stammt aus Henry Purcells Oper „Dido und Aeneas“. Die Eingangsworte lassen sich nicht ganz eindeutig übersetzen. Es schwingen zwei Schattierungen mit: „Wenn ich in die Erde gelegt werde“ sowie „Wenn ich in der Erde liege“. Der kurze Text endet mit den Worten: „Erinnere dich an mich, aber ach, vergiss mein Schicksal.“
Die Arie passt nicht nur für Dido, die sagenumwobene Karthagerin, sondern auch für Millionen von Soldaten, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind. Einer von ihnen war Richard Bayer aus Kirchheim, mein Großonkel. Gestorben ist er kurz nach Ausbruch des Kriegs, in der „Schlacht in Lothringen“, die im August 1914 tobte. Deutsche und französische Armeen beharkten sich gegenseitig an der Grenze zwischen Frankreich und Lothringen, das damals zum Deutschen Reich gehörte.
Als Richard Bayer vor hundert Jahren in die Erde gelegt wurde, geschah dies weit entfernt von seiner Heimat. Der Begriff „Heimaterde“ ist indessen schwer zu definieren, besonders im historischen Zusammenhang. Zwischen 1871 und 1918 wäre der Großteil Lothringens – zumindest aus nationalstaatlich deutscher Sicht – für den Kirchheimer Soldaten „heimatliche Erde“ gewesen. Seit Ende des Ersten Weltkriegs dagegen ruht er in „fremder Erde“, auf französischem Staatsgebiet.
Was mich jetzt innerhalb kurzer Zeit drei Mal nach Lothringen geführt hat, in kleine malerische Ortschaften südlich von Sarrebourg, das war die Suche nach dem Grab von Richard Bayer. Dazu gab es den Hinweis aus einem alten Familienstammbuch, der zunächst vielversprechend klang, sich dann aber als dürftig herausstellen sollte: „Beerdigung in Dreibrunnen (Lothringen) im Grab 9“.
Eine erste schnelle Internetrecherche ergibt, dass „Dreibrunnen“ längst schon „Troisfontaines“ heißt und eben wenige Kilometer südlich von Sarrebourg liegt, etwa auf halber Strecke zwischen Straßburg und Metz. Da Troisfontaines heutzutage kaum mehr als 1 300 Einwohner zählt, müsste sich ein Friedhof dort ziemlich einfach finden lassen. Und da Soldatengräber ja nicht aufgelöst werden sollten, müsste sich auch das Grab von Richard Bayer hundert Jahre nach seinem Tod noch auf dem Friedhof von Dreibrunnen befinden, auch unabhängig von der Zahl „9“.
Tatsächlich aber erweist es sich als deutlich schwieriger, vor Ort und ohne weitere vorhergehende Recherche den Friedhof zu finden, auf dem Richard Bayer im August 1914 „in die Erde gelegt“ worden war. Als der „cimetière“ dann doch gefunden ist, ergibt sich dort die interessante Begegnung mit einem älteren Mann, dessen Deutsch eine nette Mischung aus lothringischem und saarländischem Dialekt darstellt. Seine Vorfahren waren im Kaiserreich aus dem Saarland nach Dreibrunnen gekommen, erzählt er. Bis in die 60er-Jahre hinein hätten alle im Ort sich noch auf Deutsch unterhalten. An die eigenen Kinder habe man die Sprache allerdings nicht mehr weitergegeben. Er selbst hat sie auch nur sprechen gelernt, als Muttersprache. Lesen und Schreiben dagegen ist er – von seiner Schulbildung her – nur auf Französisch gewöhnt.
Die Auskunft, die er über das mögliche frühere Grab von Richard Bayer gibt, ist hoffnungsvoll. Diese Gräber in Troisfontaines seien auf Soldatenfriedhöfe verlegt worden, wie sie in der Umgebung zahlreich vorhanden sind. Er vermute, dass sich das Grab meines Großonkels auf dem Soldatenfriedhof in Walscheid befinde, gerade einmal zwei Kilometer Luftlinie südlich von Dreibrunnen. Gegen die Weiterfahrt zum deutschen Soldatenfriedhof nach Walscheid hat aber leider die streikende Autobatterie etwas einzuwenden. So geht es eben unverrichteter Dinge nach Hause.
Nächster Versuch, eine Woche später. Wieder ist es nicht so einfach, den Friedhof zu finden, der auf einer bewaldeten Anhöhe liegt, weit oberhalb der Ortschaft. Groß ist die Anspannung vor dem Betreten des Soldatenfriedhofs. Ebenso groß ist kurz darauf die Enttäuschung: Weder auf den Einzelgräbern ist der Name „Richard Bayer“ zu finden, noch taucht er unter den alphabetisch aufgelisteten Namen des „Kameradengrabs“ auf. Nicht einmal der Nachname „Bayer“ lässt sich auf dem Soldatenfriedhof in Walscheid entdecken.
Also ist wohl doch eine umfangreichere Recherche notwendig: Gleich nach der Rückkehr wird der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge angeschrieben, der insgesamt drei Mal antwortet und dabei immer konkreter wird. In der letzten Antwort heißt es, dass der gesuchte Großonkel tatsächlich in einem „Kameradengrab“ ruht, aber eben nicht in Walscheid, sondern in Plaine-de-Walsch, ungefähr zwei Kilometer Luftlinie nördlich von Troisfontaines.
Wenn wir diese Information schon früher gehabt hätten, dann hätten wir Richard Bayer – der unter dem Namen „Richard“ auch auf dem Gefallenendenkmal auf dem Alten Friedhof in Kirchheim verzeichnet ist – trotzdem nicht gefunden in Plaine-de-Walsch (einstmals „Hochwalsch“). Denn in der Familie meiner Großmutter wurde häufig der zweite Vorname als Rufname verwendet. Offiziell hieß ihr älterer Bruder aber „August Richard Bayer“, und deswegen taucht er als toter Soldat nur unter dem Namen „August Bayer“ auf.
Nach Auskunft des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge handelt es sich bei August Bayer im Kameradengrab von Plaine-de-Walsch aber eindeutig um den gesuchten Großonkel aus Kirchheim. Das gehe hervor aus „Unterlagen, die aus deutschen, englischen, französischen und belgischen Archiven zusammengefasst sind“. Weiter heißt es: „In der Verlustliste aus dem Jahre 1915 ist angegeben, dass der Musketier der 8. Kompanie des Infanterie-Regiments Nr. 111, August Bayer, geboren in Kirchheim u. Teck als nicht verwundet, sondern als am 20.08.1914 gefallen gemeldet worden ist.“
Der Verwirrung um den Vornamen folgt die Verwirrung um das exakte Todesdatum, denn in der Grabmeldung ist als Todestag der „21.08.1914“ angegeben. Auch auf dem Gedenkstein des Kameradengrabs in Plaine-de-Walsch steht schließlich zu lesen: „Bayer August Musketier + 21. 8. 1914“. Auf den genauen Tag kommt es aber nicht an beim ersten Besuch aus der fernen Kirchheimer Heimat, den August Richard Bayer am 22. August 2014, also ziemlich genau 100 Jahre nach seinem frühen Tod im Alter von nur 22 Jahren, erhält – von drei Vertretern aus drei unterschiedlichen Generationen: von einem Neffen, einem Großneffen und einem Urgroßneffen. Die drei wollen sich, um auf Henry Purcells Dido-Arie zurückzukommen, einerseits an ihn erinnern, andererseits aber sein Schicksal gerade nicht vergessen.
Allerdings ist über dieses Schicksal, besonders über die Todesumstände, so gut wie nichts bekannt. Als „Musketier“ gehörte August Richard Bayer zum einfachsten Dienstgrad der Infanterie. Als er irgendwann in den 20er-Jahren durch den französischen Gräberdienst von Dreibrunnen nach Plaine-de-Walsch umgebettet wurde, hätte sich der „Musketier“ vermutlich in einen „Schützen“ umbenannt gehabt. Allerdings wäre ihm die Dienstbezeichnung wohl vollkommen egal gewesen, denn laut Aussage seiner jüngeren Schwester Julie hat er die Soldatenuniform gehasst und wollte von Anfang an nicht in diesen Krieg ziehen. Und tatsächlich hieß es schon kurz nach Kriegsbeginn in einer der ersten Schlachten für ihn: „Darkness shades me“. Frei übersetzt bedeutet diese Zeile aus der Purcell-Oper: „Dunkelheit umfängt mich“. Dunkel bleibt sein Schicksal, aber es soll nicht ganz vergessen sein.