Bissingen. Dunkle Wolken hängen über Bissingen. Das Abendläuten ist soeben verklungen. Vor dem Gartenzaun in der Bissinger Hinteren Straße 41 stehen Blumen auf einem mit einem violetten Tuch verhangenen Podest. Die Flamme der Kerze daneben flackert im Wind. An das Podest gelehnt, das Hochzeitsfoto von Marie und Wilhelm Weißburger. „Ein bescheidener, fleißiger und ehrlicher Mann, der sich nichts hatte zu Schulden kommen lassen“, beschreibt ihn Gabi Goebel, die Sprecherin des Initiativkreises Wilhelm Weißburger, den zahlreichen Gästen der Gedenkfeier. Viele ältere Bissinger sind darunter. Zeitzeugen. Ernst und gedankenverloren sitzen sie auf den Bänken. Manche haben den Blick gesenkt. Sie kannten Wilhelm Weißburger.
Mit 17 Jahren war er nach Bissingen gekommen, hatte zunächst in der Landwirtschaft und Schäferei, dann bei Kolb & Schüle in Bissingen und der Firma Grüninger & Prem in Kirchheim gearbeitet. Im Oktober 1933 hatte er Anna Maria Ehni geheiratet und war im November 1933 in die evangelische Landeskirche eingetreten. Im Oktober 1942 war er verhaftet und über Nürtingen und das KZ Welzheim ins KZ Auschwitz deportiert worden. Im Januar 1943 war er dort ermordet worden.
„Sich erinnern heißt wachsam bleiben“, griff Bissingens Bürgermeister Marcel Musolf den Leitsatz des Initiativkreises auf. Musolf, der das Anliegen der zehnköpfigen Initiativgruppe von Anfang an unterstützte, sah es als die Aufgabe aller an, solche Einzelschicksale wie das Weißburgers aufzuarbeiten. „Ja, ich bin stolz auf die Arbeit des Initiativkreises“, bekannte das Gemeindeoberhaupt und erinnerte mit einem Zitat des Alt-Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker daran, dass ein jeder die Verantwortung dafür trägt, dass sich die Ideologie und der Rassenwahn der Nationalsozialisten nie mehr wiederholen können: „Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah, sondern für das, was in der Geschichte daraus wird.“
Im Gemeinderat habe er durch den Initiativantrag, eine Stele für Wilhelm Weißburger errichten zu dürfen, einen intensiven politischen Prozess erlebt, der letzten Endes doch zu einem einstimmigen Votum für das Mahnmal führte. „Die Aufarbeitung hat Raum und Zeit benötigt.“ Die Enthüllung der Stele hielt Marcel Musolf aber nicht für das Ende des Weges, denn, „sich erinnern heißt wachsam bleiben,“ schloss er den Kreis.
Dem Grußwort des Bürgermeisters folgte die Enthüllung der Gedenkstele durch Ilse Hahn, der Nichte Wilhelm Weißburgers, und den Bissinger Bildhauer Winfried Tränkner. Der im Initiativkreis engagierte Bildhauer, der mit seiner Familie im Weißburgerschen Haus lebt, gab vor rund zwei Jahren den gedanklichen Anstoß zum sichtbaren Gedenken des ermordeten Bissinger Juden. In der Feierstunde gedachte er in einer Meditation des grausamen Schicksals des Vorbesitzers seines Hauses: „Wie Blätter verwehen im Wind, war er verschwunden. 70 Jahre danach nenne ich seinen Namen – Wilhelm.“
Pfarrer Ulrich Müller machte in seiner Rede (siehe unten) auf die Frage „Wie viel Vergangenheit verträgt die Gegenwart?“ zweierlei Entdeckungen: „Sie verträgt erstaunlich wenig, wenn sie mit Schuld belastet ist.“ Und: „Wir vertragen viel mehr Vergangenheit, wenn wir uns ihr stellen“. Mit der Erinnerung an Wilhelm Weißburger erhielten sechs Millionen Einzelschicksale ein Gesicht. Mit der Stele werde sein Leben und sein Schicksal der Anonymität und dem Vergessen entrissen. Die Stele verhindere, dass die Nationalsozialisten letztlich doch triumphieren. „Sie verdeutlicht aber auch, dass sie ihr letztes Ziel, die endgültige Vernichtung von Leben, Leben endgültig dem Nichts anheimzugeben, nicht erreicht haben und auch nicht erreichen werden“
Die Frage von Charlotte Knobloch, der ehemaligen Zentralrats-Präsidentin der Juden in Deutschland: „Wollt ihr uns Juden noch?“ führte den Pfarrer zur Antwort von Bundestagspräsident Norbert Lammert: „Ich wünschte mir, diese bestürzende Frage würde sich unmissverständlich von selbst beantworten. Aber mit ihr wirft Charlotte Knobloch auch die Frage auf: Wen meint „ihr“? Und wer ist „uns“? „Wir“ in diesem Land – Juden wie Nichtjuden, Christen, Muslime oder Atheisten – unterscheiden uns in unserem Glauben. Aber uns eint, Teil dieser einen deutschen Gesellschaft zu sein. Und in ihr sind wir alle auf dem Boden des Grundgesetzes, seiner Werte und Grundrechte, gefordert, die gemeinsame Basis für unser Zusammenleben zu wahren und fortzuentwickeln. Ihr seid wir.“
Auf Wilhelm Weißburger bezogen fügte Pfarrer Müller hinzu: „Er war und bleibt einer von uns.“
Gabi Goebel bedankte sich am Ende der Feier, die vom Saxofonquartett des Musikvereins Bissingen in würdiger Weise umrahmt wurde, bei allen Unterstützern des Initiativkreises. Für die Kosten der Stele, den „Stein des Anstoßes“, waren neben den ansehnlichen Spenden der Gemeinde und der Kirchengemeinde Bissingen viele Privatspenden eingegangen.