Kirchheim. Schüler mit einer ausgeprägten Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) tun sich schwer damit, wie andere lesen und schreiben zu lernen. „Wenn sie zu uns kommen, sind die Kinder meist verunsichert, sie haben schon viel Frust hinter sich, waren oder sind in logopädischen Behandlungen“, berichtet die Lehrerin Christel Rott. Sie unterrichtet an der Kirchheimer Freihof-Grundschule die Leseklasse für Zweit- und Drittklässler. Häufig hätten die Kinder zu hören bekommen, sie seien faul und übten zu wenig. Dabei liege einer Lese-Rechtschreib-Schwäche meist eine genetische Dimension zugrunde, die mit einer Wahrnehmungsverarbeitungsstörung einhergehe. Um überhaupt mit den Kindern arbeiten zu können, nehme sie erst einmal den Druck weg und sorge für Entspannung, erklärt die Pädagogin. „Es macht Spaß, herauszubekommen, wie jedes Kind am besten lernen kann.“
Im Jahr 2004 hat die Grundschullehrerin mit Zusatzqualifikationen für Legastheniker, wie LRS-Kinder mitunter auch genannt werden, die erste Leseklasse an der Kirchheimer Freihof-Grundschule unterrichtet. Stolz verweist sie auf zahlreiche positive Rückmeldungen und Dankesbriefe von Eltern. „Viele Kinder besuchen nach der Leseklasse inzwischen die Realschule. Mittlerweile traue ich mich sogar, für einzelne Kinder eine Gymnasialempfehlung zu geben.“ Denn die Schwäche der Kinder habe nichts mit Intelligenz zu tun. Eine Hürde stelle allerdings die an den Gymnasien bereits in der sechsten Klasse hinzukommende zweite Fremdsprache dar.
Jahrgangsübergreifend werden in den Leseklassen Zweit- und Drittklässler beziehungsweise Dritt- und Viertklässler unterrichtet. Zu einer Klasse gehören maximal zwölf Kinder. Im Landkreis Esslingen gibt es außer in Kirchheim zwei weitere Leseklassen in Bernhausen. Auf dem Stundenplan stehen jede Woche zehn Stunden Deutsch. Auch die Methoden unterscheiden sich vom normalen Unterricht: „Bei uns gibt es zum Beispiel für jeden Buchstaben eine Lautgebärde – unsere Geheimsprache, die den Kindern hilft, die Abfolge von Lauten genauer zu erfassen“, erläutert Christel Rott. So wird ein „M“ mit drei Fingern an der Nase dargestellt, ein „N“ mit zwei Fingern. „Dabei herrscht im Klassenraum absolute Stille“, sagt die Pädagogin. Über mehrere Wochen beschäftigen sich die Kinder mit den gleichen Wörtern. Zum täglichen Ritual in den Leseklassen gehört das Schwingen von Silben. „Wichtig ist, dass der Unterricht immer nach dem gleichen Schema abläuft.“ Dazu zählt eine viertelstündige Lesezeit nach der ersten Pause. Einmal in der Woche lesen sich die Schüler intensiv geübte Texte gegenseitig vor.
Unabhängig davon, ob sie in einer Regelklasse ein, zwei oder gar schon drei Schuljahre hinter sich haben, lernen die Kinder in der Leseklasse mithilfe des Kieler Leseaufbaus im ersten Jahr das Entziffern von Buchstaben und Lauten stufenweise noch einmal ganz von vorne. „Die Kinder können oft keine Silben klatschen oder Wortgrenzen erkennen und haben Probleme damit, sich Gehörtes zu merken“, erläutert Christel Rott. Im zweiten Jahr geht es insbesondere darum, Strategien für die Rechtschreibung zu lernen.
„Bevor die Schüler zu uns kommen, spielen sich in vielen Familien Dramen ab. Oft dreht sich alles nur noch um die Schule“, so die Lehrerin. Wie groß der Leidensdruck sein muss, zeigt sich daran, dass Eltern in Kauf nehmen, ihre Kinder über Jahre selbst von Neidlingen, Plochingen oder Esslingen nach Kirchheim zu fahren und nach dem Unterricht wieder abzuholen. Denn anders, als beim Besuch von Sonderschulen, müssen die Eltern den Transport selbst übernehmen.
„Wir hängen immer vom Ergänzungsbereich ab“, moniert Christel Rott. Damit fließt das Geld für die Leseklassen aus einem Topf des Staatlichen Schulamts Nürtingen, aus dem unter anderem auch Krankheitsvertretungen finanziert werden müssen. „Es geht nicht darum, Leseklassen bis zum Abitur zu haben“, unterstreicht die Schulamtsdirektorin Karin Bogen-Dittrich, unter anderem zuständig für Teilleistungsstörungen. Der Erfolg der Leseklassen zeige, wie wichtig für manche Schüler dieser geschützte Rahmen sei. „Die Kinder bekommen hier Mut, sie werden stark gemacht“, hebt die stellvertretende Schulamtsleiterin hervor. Wünschenswert sei, die bestehenden Leseklassen im Land durch Geldmittel aus dem Direktbereich zu sichern, damit ein Ausbau landesweit und modellhaft erfolgen könne. Christel Rott und Karin Bogen-Dittrich befürchten allerdings, dass mit dem Vorantreiben von Inklusion für die Leseklassen kein Geld mehr übrig bleibt. In einem ersten Schritt sei zwar differenzierter Unterricht in einer Regelklasse angebracht, Kinder mit extremen Schwierigkeiten profitierten aber enorm und innerhalb von kurzer Zeit vom Besuch einer Leseklasse.
Christel Rott und Karin Bogen-Dittrich sind überzeugt davon, dass die Leseklassen einen wichtigen Beitrag zur Minimierung von Analphabetismus leisten. „Denn“, so bekräftigt Christel Rott: „Lesen gelernt haben bei uns alle.“