Kirchheim. In der städtischen Galerie im Kornhaus zeigt Menja Stevenson die Aufnahme einer großen Uhr im Stadtraum von Kirchheim. Auf
Kai Bauer
eine große Plane geplottet, wird die Uhr zum Kunstmotiv, weil sie keine Zeit anzeigt, sondern in der Aufnahme zu einem seltsamen Objekt wird, das auf die Tradition der Neonkunst von Dan Flavin bis Monica Bonvicini verweist. Menja Stevenson verändert nichts an diesem Objekt im öffentlichen Raum. Sie entdeckt lediglich, dass der Uhr die rückseitige Glasplatte fehlt, die wohl aus einer Werbetafel bestanden hat. Sie verändert nur den Standpunkt, die Sichtweise auf die Wirklichkeit, indem sie die Uhr von ihrer Rückseite fotografiert. Menja Stevenson, 1982 geboren in Rottweil, studierte bei Volker Lehnert, Susanne Windelen und Alexander Roob an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Ihre künstlerischen Konzepte entwickelte sie auch bei Auslandsaufenthalten, beispielsweise in Spanien und Ecuador. Ihre Werke finden sich bereits in den Sammlungen des Landes Baden-Württemberg, der Sammlung Daimler Contemporary und dem Kunstmuseum Stuttgart.
Seit 2006 sammelt die Künstlerin bewusst Alltagssituationen, die sie als „Momente“ bezeichnet. Sie verarbeitet dabei Aufnahmen mit ihrer HD-Kamera, die schnell, spontan und beiläufig entstehen. Zufall und Überraschung spielen ein zentrale Rolle: „Ich beobachte das Unspektakuläre, das auf den zweiten Blick nicht mehr das Normale widerspiegelt, sondern die Poesie, die Komik, die Skurrilität oder das Abgründige dahinter.“
Sammeln, Archivieren und Lagern von visuellen Fundstücken wechseln sich ab mit Prozessen des Auswählens, dem Testen von Präsentationsformaten bis hin zu aktiven Inszenierungen vor der Videokamera, wobei die Ideen für diese Szenen oft wieder an die Sammlungen ihrer gefundenen Motive anschließen. Auf mehreren Festplatten, in Schachteln und Ordnern haben sich über Jahre rund 800 dieser „Momente“ angesammelt. Entstanden ist ein Ideenarchiv von Fragmenten, Skizzen, Notizen, Fotografien, Videoschnipseln und Texten.
Die überklebten Verbotsschilder, die auf der Einladungskarte zu sehen sind, wurden als „gefundene Momente“ in Cadiz aufgenommen. In den Vitrinen der Passage vor der städtischen Galerie Kirchheim werden sie als Objekte rekonstruiert. Fabrikneue Verkehrsschilder hat die Künstlerin mit vergrößerten Reproduktionen der Klebebänder auf den ursprünglichen Schildern überklebt. Dabei kombiniert sie das real vorhandene Schild mit der geplotteten Darstellung von Wirklichkeit. Die Handlung des Überklebens wird als geplanter Eingriff artifiziell auf eine andere Wahrnehmungsebene gebracht. Sie symbolisiert damit das, was Kunst von Verkehrsschildern unterscheidet: Das Verkehrsschild ist ein Zeichen mit konventionalisierter Bedeutung. Es sollte von allen Verkehrsteilnehmern gleich interpretiert werden, die Bedeutung muss gelernt werden. Mit den Klebebändern wird die spezifische Bedeutung der Schilder abgedeckt und damit der Eindeutigkeit entzogen. Das Motiv der Einladungskarte ist bereits eine Metapher für Kunst: Verkehrsschilder wurden zugeklebt, damit man sie nicht mehr versteht.
Die zweite große Werkgruppe der Künstlerin Menja Stevenson basiert nicht auf Fundstücken, sondern besteht aus Inszenierungen. In Videoszenen hat die Künstlerin keine zufälligen Begebenheiten aufgezeichnet, sondern Darstellung und Inszenierung finden als geplante Elemente vor der Kamera statt. Im Alltag würde man sie vielleicht gar nicht bemerken, sie spielen knapp unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Skurrile Alltagssituationen, wie das sich regelmäßig hebende Beinpaar im Park (Solitude 2011), das über eine längere Zeit gefilmt wird, oder die leichte Bewegung des zugeklappten Sonnenschirms (Parasol 2011) irritieren, weil sie durch die Reproduktion im Film eine höhere Bedeutung als darstellungswürdiges Motiv erhalten, ihre tiefer gehende Sinnhaftigkeit jedoch nicht erklärt wird.
Das Video „Aufsichten im Museum“ stellt eine Mischform aus inszeniert und gefunden dar. Mitarbeiter des Kunstmuseums Stuttgart, die während eines Ausstellungsaufbaus die noch leeren Räume beaufsichtigen und dabei ihre über Jahre entwickelten halbbewussten Verhaltensweisen zeigen, sind die Darsteller dieser Videoarbeit. Die Wände hinter ihnen sind leer. Trotzdem läuft jede Aufsicht ihre gewohnte Strecke in der bewährten Langsamkeit ab und zeigt auch die teilweise unbewussten Eigenarten von Mimik und Haltung. An ihrem Arbeitsplatz sind sie gleichzeitig Wärter und Gefangene. Ihr Habitus gibt ihnen die Wichtigkeit, die das Arbeiten vom Nichtstun unterscheidet. Ihre Bewegungen sind denen des Museumsflaneurs ähnlich und doch grundverschieden: Da sie Kunstwerke beschützen und eventuell zu lebhafte Besucher durch ihre Autorität im Zaum halten müssen, sind sie gezwungen, zwischen sich und den Besuchern eine Hierarchie aufzubauen, deren Machtgefälle sie bei Bedarf legitimiert, die Ausstellungsbesucher zurechtzuweisen. Während einer Ausstellung sind diese Mitarbeiter fast unsichtbar, im Video werden sie zu Hauptdarstellern und Performern.