Kirchheim. Die „Theaterspinnerei“ hat ihren Sitz in Frickenhausen. Doch sie betreibt ihre „Spinnerei“ auch andernorts, kein Schwimmbad, kein Steinbruch, kein Wald ist vor ihr sicher. Sie verwandelt jede
Ulrich Staehle
Örtlichkeit in einen Schauplatz für Theater und gewinnt ihm dadurch völlig neue Aspekte ab. Daneben weiß sie technische Mittel einzusetzen, um Illusionen zu erzeugen.
Diesmal hat sich die Theaterspinnerei den Kirchheimer Güterbahnhof als Theaterplatz ausgesucht. Sie ist bahnerfahren. Schließlich war ihr Standquartier einmal ein Bahnhof, und die Bahnstrecke Neuffen-Frickenhausen hat sie auch schon bespielt. Doch der Hauptgrund für die Spielortwahl besteht darin, dass Kirchheim den Bahnanschluss vor 150 Jahren feiert. Zu diesem Anlass hat die Theaterspinnerei, das heißt Hausautor Stephan Hänlein, ein Stück verfasst mit dem Titel „Delirium furiosum. „Nächster Halt. . . Endstation?“, das am vergangenen Freitag Premiere hatte.
Der theatergewohnte Zuschauer musste sich zuerst ermahnen, zum Bahnhof zu fahren, um ins Theater zu gehen. Die hässliche Güterhalle soll es sein? Von wegen hässlich. Es scheint so, als stehe dort ein neues Gebäude, hell und farbenprächtig, fantasievoll geschmückt von Sprayern, die mit den Theaterleuten und der Stadt zusammengearbeitet haben und mit ihrem Werk ihren Ruf gewaltig verbessert haben. Wenn man die Halle vom Eingang an der Westseite betritt, kommt man aus dem Staunen erst recht nicht heraus. Vier Monate, so teilte Theaterleiter Jens Nüßle mit, hat die Theatermannschaft geschuftet, um aus der Güterhalle mit seinen zwei Gleisschächten einen Theaterraum zu machen mit einer Tribüne für 250 Zuschauer und einer vollständigen technischen Ausrüstung. Sogar eine Drehbühne ist installiert, und es gibt eine Bewirtschaftung.
Wer in Kirchheimer Heimatbüchern köstliche Anekdoten über die Anfänge der Kirchheimer Eisenbahn nachgelesen hat, hätte vielleicht ein heiteres schwäbisches Volksstück erwarten können gemäß dem Motto des Liedes „Auf dr schwäbschen Eisabahna“. Doch Autor Hänlein hat offensichtlich andere Absichten. Im Scheinwerferlicht steht zu Beginn ein wunderliches Paar: ein Herr, in sandfarbenem pompösen Fantasiekostüm und eine Frau in kontrastierendem schwarz-rotem Kleid und hohen Lederstiefeln. Der Autor erfand zwei Kunstfiguren, die gegensätzliche Positionen vertreten. Der Herr (Jens Nüßle selbst) lehnt gravitätisch und ruhig den technischen Fortschritt ab, wie er sich in der Eisenbahn manifestiert, die Frau (Marilena Pinetti) verteidigt ihn.
Die beiden Figuren, im Programmheft „Blinder Passagier“ und „Velocifera“ genannt, sind ständige Begleiter der Fahrgäste und geben ihre Kommentare ab. Der „blinde Passagier“ ist Anwalt der Entschleunigung. Er weist auf das „Delirium furiosum“ hin, die ziellose Hektik und den „Tunnelblick“, den der technische Fortschritt mit sich bringt. Sie setzt dagegen, dass die Menschen schneller zueinanderfinden und vor allem, dass Handel und Wirtschaft durch die Bahn aufblühen – siehe Wollmarkt und die Textilindustrie Kirchheims.
Als Fahrgast sticht vor allem ein Schäfer hervor (menschlich rührend: Markus Michalik), der seinen Beruf aufgeben muss und seine Restwolle verkaufen will. Dazu muss das Landkind in die Stadt fahren. Alles ist fremd und er wird schließlich als Heizer in den Dienst des technischen Fortschritts gespannt. Außerdem sitzt im Abteil ein „Handlungsreisender“(Thomas Müller-Brandes), der für sein Spielzeug einen Markt sucht. Diese beiden Gestalten personifizieren die Positionen der Kunstfiguren: Der naive Schäfer bekommt Belehrungen vom bahnerfahrenen Reisekollegen. Von dem übrigen Personal ist „Tante Clementine“ (Eileen Stemmler-Mohring) für die Komik zuständig. Aus den USA angereist, kämpft sie mit den Fahrplänen und der eigenen Unpünktlichkeit, richtet sich aber doch ganz bequem im Leben ein. Ab und zu taucht aus dem Untergrund mit viel Dampf ein rußgeschwärzter Mann (Michael Minich) auf, der meist krabbelnd von der „Velocifera“ wie von einer Domina herumkommandiert und wieder in den Untergrund geschickt wird. Die ungesunde Sklavenarbeit des Heizers wird mit vier Bieren erträglicher gemacht: Der technische Fortschritt fördert die Ausbeutung, es entsteht ein Proletariat. Auf dem Bahnsteig kommt ab und zu eine „Elli“ (Kerstin Schürmann) mit ihrem Getränkewagen angefahren. Sie wird von der Bahn angezogen, weil sie im Getriebe des Bahnhofs ihr Lebensglück durch Warten sucht („Das Leben ist ein Bahnhof“).
Autor Stephan Hänlein wollte in seinem Stück vor den Folgen der „Beschleunigung“ warnen. Das kommt im Schlussbild zum Ausdruck und ist sehr aktuell, bedenkt man, dass beispielsweise für ein paar Minuten, die man irgendwann schneller in Ulm ist, die Alb durchbohrt wird. Er hat ein „Entschleunigungsstück“ geschrieben. Das ist ambitioniert und imponierend. Auf der Darstellungsebene hat es aber stellenweise einen Tempoverlust zur Folge. Die philosophischen Exkurse führen ein recht statisches Bühnendasein. Und die nicht sprechenden Figuren müssen dann „eingefroren“ oder pseudobeschäftigt werden. Regisseur Jens Nüßle arbeitet jeden Satz und jede Geste heraus. Das schafft klare Verständlichkeit, wirkt aber passagenweise zu gleichförmig. Manchmal gibt es szenische Rätsel, die nur der Autor oder die Regie auflösen können, vor allem bei dem Handlungsreisenden.
Der Zuschauer kann sich an vielem freuen. Ein Akkordeonspieler (Ernst Kies) überbrückt mit erfrischenden Musikeinlagen die Szenenwechsel. Den ersten Szenenapplaus bekommt die Technik! Es ist unglaublich, was die Theaterleute in dem Güterbahnhof zu bieten haben. Bahnwaggons – acht Tonnen sollen sie wiegen – fahren aus und ein und auf drei Projektflächen findet ein Farben- und Formenrausch statt. Ein zufriedenes Publikum setzt am Schluss die Trillerpfeifen, die sinnvollerweise beim Eintritt verteilt wurden, als Beifallsinstrument ein. Beim Verlassen des Güterbahnhofs wird nochmal bewusst: Die Theatertruppe hat aus einer unwirtlichen toten Ecke der Stadt einen optischen und kulturellen Glanzpunkt gemacht.
Das Stück „Delirium furiosum“ wird bis 2. November 18 Mal gespielt. Karten gibt es unter der Telefonnummer 0 70 22/2 43 56 00.