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Das bewegende Schicksal Wilhelm Weißburgers

Kreisarchivar Manfred Waßner sprach über die Verfolgung von Juden zwischen 1933 und 1945 im heutigen Kreis Esslingen

Die Verfolgung jüdischer Bürger von 1933 bis 1945 hat Kreisarchivar Manfred Waßner im Bissinger Gemeindehaus am Abend des Gedenktags der Reichspogromnacht nachgezeichnet. Dabei hat er auch an das tragische Schicksal Wilhelm Weißburgers erinnert, der als Bissinger jüdischer Abstammung in Auschwitz ermordet worden war.

Das Hochzeitsbild von Marie und Wilhelm Weißburger, die im Oktober 1933 in Bissingen heirateten.Foto: privat
Das Hochzeitsbild von Marie und Wilhelm Weißburger, die im Oktober 1933 in Bissingen heirateten.Foto: privat

Bissingen. Die Reichspogromnacht vom 9. auf 10. November 1938 markierte den Beginn der offenen Verfolgung jüdischer Bürger in Deutschland. Vorausgegangen waren Jahre fortschreitender Diskriminierung und Entrechtung der Juden. Das war auch im heutigen Landkreis Esslingen so, wie Kreisarchivar Manfred Waßner an Beispielen aufzeigte. Im April 1933 hatte die SA auch in Kirchheim vor dem jüdischen Geschäft Stern in der Max-Eyth-Straße 12 und vor dem Salmonschen Laden in der Dettinger Straße bewaffnete Posten aufgestellt, die alle Kunden daran hinderten, die Läden zu betreten.

Die Bürgermeisterämter hatten Ende 1933 an die Landratsämter alle jüdischen Einwohner zu melden. Aus Bissingen kam eine Fehlanzeige, obwohl Wilhelm Weißburger, der jüdischer Abstammung war, damals schon im Ort lebte.

1935 verschärfte sich die Lage durch die von Hitler erlassenen sogenannten Nürnberger Gesetze, die Juden zu Bürgern zweiter Klasse machten. Auch im Oberamt Kirchheim und im Landkreis Nürtingen hatte die Benachteiligung Folgen. Breiten Raum nahm die Hetze gegen die traditionsreichen Viehhändlerfamilien Vollweiler und Reutlinger, Hirsch und Sommer ein.

Im Januar 1937 durften jüdische Viehhändler ihr Gewerbe nicht mehr ausüben. Im April 1937 fand in Notzingen eine Propagandaversammlung der Kirchheimer Kreisbauernschaft statt, bei der gegen jüdische Händler gehetzt wurde. Die Versammlung nahm jedoch eine erstaunliche Wendung: Der Wellinger Bauer Georg Deuschle erklärte: „Wer kauft uns denn unsere alten Kühe ab? Der Jude Vollweiler hat mir fünf Kühe hereingestellt und mich nicht beschissen.“ Deuschle wurde sofort der Parteiaustritt nahegelegt, dem er auch nachkam. In der Nacht wurde in Wellingen ein Plakat aufgehängt, auf dem stand: „Juden sind in Wellingen erwünscht.“ Deuschle wurde am folgenden Tag verhaftet, seine Wohnung durchsucht.

Wie fanatisch und radikal die Parteifunktionäre auch im Kleinen zu Werke gingen, zeigen die Pogrome im November 1938 in Esslingen, wo das israelitische Waisenhaus, die Wilhelmspflege, von einem Mob gestürmt, Lehrer und Kinder schwer misshandelt, das ganze Gebäude und seine Einrichtung beschädigt und zerstört wurden. Auch die Synagoge wurde beschädigt und ihre Einrichtung verbrannt.

Juden, die nach all diesen Ereignissen Deutschland den Rücken kehren wollten, mussten eine „Fluchtsteuer“ bezahlen und einen Pass beantragen. Wer im altkreis Nürtingen Kreisleiter Wahler nicht passte, erhielt keinen Pass. Einer, der trotz allem in seiner Heimat blieb, war Wilhelm Weißburger. 1902 in Kochendorf als Sohn jüdischer Eltern geboren, kam er vermutlich als 16- oder 17-Jähriger zu einer Bissinger Bauern- und Schäferfamilie, wo er als Knecht arbeitete. Im Oktober 1933 heiratete er die Bissingerin Maria Ehni. Künftig ging er wie andere auch in eine Kirchheimer Gießerei zur Arbeit und betrieb eine kleine Landwirtschaft. Sein weiteres Schicksal, das von Brigitte Kneher bereits 1985 aufgegriffen wurde, war kaum bekannt, bis sich der Bissinger Initiativkreis Wilhelm Weißburger seines traurigen und erschütternden Schicksals annahm.

Weißburger lebte in Bissingen als getaufter und konfirmierter evangelischer Christ. Das Ehepaar blieb kinderlos und lebte bis in die 1940er Jahre unbehelligt und vollkommen ins dörfliche Leben integriert. Der Pflicht, einen Judenstern zu tragen, kam Wilhelm Weißburger nicht nach, was vom Bürgermeisteramt ganz offensichtlich geduldet wurde.

Während einer längeren Abwesenheit des Bürgermeisters erhielt der örtliche Landjäger Schabel mehrfach den Befehl, Weißburger zu verhaften. „Der brave Mann versuchte das zu vermeiden“, so Kreisarchivar Waßner, „konnte aber dem Druck der Parteifunktionäre nur kurz standhalten und begleitete Weißburger nach Nürtingen“. Von dort wurde er sehr schnell – es ist unsicher, ob er zuvor noch in Welzheim gefangengehalten wurde – nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Für Waßner war es keine Frage, der entscheidende Anstoß zu Weißburgers Verhaftung und damit zu seiner Ermordung kam aus der Gemeinschaft, aus dem Dorf heraus. „Das war kein Zufall oder Ausfluss höherer Mächte. Parteifunktionäre waren dafür verantwortlich.“

Den Bericht des Kreisarchivars ergänzte Gabi Goebel vom Initiativkreis, der gemeinsam mit dem Abendforum zu dieser Veranstaltung eingeladen hatte. Wilhelm Weißburger hatte sich einen Monat nach seiner Hochzeit taufen lassen. Damit sei jedoch seine jüdische Herkunft nicht beseitigt, schrieb damals der Oberkirchenrat. Sechs Jahre später wurde in Weißburgers Geburtsregister vermerkt, dass er den zusätzlichen Vornamen „Israel“ tragen müsse.

In bewegenden Worten beschrieb Gabi Goebel, wie Wilhelm Weißburger mit sieben Jahren Vollwaise geworden war und als Bub bei einem Bauern in Köngen gearbeitet hatte, bevor er nach Bissingen kam, wie er sich mit einer jungen Frau verlobt hatte, die aber tödlich verunglückte, und wie seine spätere Ehefrau Marie, von der er sich nicht verabschieden durfte, noch bis zu ihrem Tod geglaubt hatte, ihr Mann sei an einer Lungenentzündung gestorben.

„Und einem solchen Mann, der nichts getan hatte, jeden Sonntag in die Stunde der Altpietisten ging, kein Trinker und kein Schläger war, einem solch anständigen, unscheinbaren Mann wird das Leben genommen.“

Gisela Ostertag, die Tochter des damaligen Bürgermeisters Ernst Nägele, erzählte, wie sie als Neunjährige die Todesnachricht am Telefon entgegennehmen musste, weil ihr Vater mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus gelegen hatte und die Mutter nicht zu Hause war.

Brigitte Kneher erinnerte sich noch an ein Gespräch im Jahre 1984 mit Marie Weißburger. Ihr Mann habe wohl geahnt, was auf ihn zukomme, denn er habe zu ihr gesagt: „Wenn ich sterbe, ist alles vorüber und du hast deine Ruhe.“

Heute wohnt in dem ehemaligen Haus der Weißburgers gegenüber der Bissinger Kelter das Künstlerehepaar Tränkner, das ebenfalls dem Initiativkreis angehört. Die Initiative ist mit Kreisarchivar Waßner der Meinung, dass es an der Zeit wäre, Wilhelm Weißburgers würdig zu gedenken. Die Veranstaltung im Gemeindehaus, die in der Bevölkerung auf große Resonanz stieß, kann in diesem Sinne als guter Anfang betrachtet werden.