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Das große Glück ist eine Originalwiede

Tillmann Marstaller lüftet die Geheimnisse des Dachgebälks im Kirchheimer Schloss

Den Blicken in der Regel verborgen ist das imposante Dachgestühl des Kirchheimer Schlosses. Den stummen Zeugen alter Handwerkskunst kann Bauforscher Tillmann Marstaller manches Geheimnis entlocken.

Bis heute bestimmt die Flößerei den Alltag der Menschen - egal, ob in der Architektur oder bei Eisenbahnwaggons. Dies und noch v
Bis heute bestimmt die Flößerei den Alltag der Menschen - egal, ob in der Architektur oder bei Eisenbahnwaggons. Dies und noch viel mehr erfahren die Teilnehmer der Sonderführung „Dem Herzog aufs Dach gestiegen“ im Kirchheimer Schloss mit Tillmann Marstaller. Foto: Deniz Calagan

Kirchheim. Feines Porzellan und edle Möbel interessieren an diesem Sonntagnachmittag wenig. Vielmehr geht es um grobes Holz, das jedoch nicht minder faszinierend ist in seiner Bearbeitung. Doch bevor Floßaugen und ineinander verzapfte Balken bewundert werden können, entführt der aus Weilheim stammende Tillmann Marstaller seine Gäste in die Vergangenheit Kirchheims und gibt einen anschaulichen Einblick in das Thema – fernab jeglicher grauer Theorie.

„Das Schloss ist eines der wenigen Bauten, die den Stadtbrand innerhalb der Mauern überlebt hat“, weiß der Bauforscher. Anhand dieses Beispiels lässt sich viel über die Baukunst der Altvorderen erfahren. „Der Dachbau verpflichtet, die Funktion richtet sich danach“, lautet die erstaunliche Formel. Im Fokus sind die Weichteile, sprich das Fachwerk. Im Kieserschen Forstlagerbuch aus den Jahren zwischen 1680 und 1685 ist dokumentiert, dass das Kirchheimer Schloss Teil der Stadtbefestigung war, und die Geschichtsforscher wissen dank alter Pläne, dass die dicken Mauern der heute noch erhaltenen Kasematten 1554 und 1555 von bayrischen Spezialisten erbaut wurden. Beispielsweise ist der mit 3,30 Meter dicken Mauern gesicherte Geschützturm in den Wehrgang integriert.

„Der Plan wirft große Fragen auf“, sagt Tillmann Marstaller mit Blick auf seine Unterlagen. „1539 sind die Ausgaben in die Höhe geschossen: von 10 000 Gulden auf bis zu 20 000 in den nächsten Jahren. Der Schlossbau, der drei Jahre dauerte, ist etwas völlig Abstruses. Auf die massive Wehranlage wird ein Fachwerk draufgesetzt – das Schloss“, verdeutlicht der Bauforscher die Besonderheiten des Baus und gerät dabei ins Schwärmen, weil alles noch original erhalten ist.

Über den Achtecksaal, den markanten Erkerbau an der Alleenstraße, wusste man lange Zeit nichts, ehe sich Tillmann Marstaller des Klimakalenders in Form der Holzkerne annahm. „Der letzte Jahrring bestimmt, wann der Baum gefällt wurde“, erklärt der Forscher. In eben jenem Achtecksaal stieß er auf Balken mit dem Fälldatum 1541 und 1542, und genau in jenen Jahren waren die Ausgaben für das Schloss am höchsten. „Im Dachstuhl wurden nur Nadelhölzer verwendet, und es drängt sich die Frage auf: Wo bekommt man so viel Holz her?“, so Tillmann Marstaller. Allein für das Dach rechnet er rund 700 Balken. „Das ist wahnsinnig viel. Für ein solches Schlösslein ging schon ein größerer Wald drauf“, verdeutlicht er die Dimensionen. Das besondere an diesem Saal ist seine große, freie Fläche, die ohne tragende Pfeiler auskommt. „Die Aufgaben für den Zimmermann waren im Schloss unterschiedlich gestellt. Hier im Saal waren es andere als beim restlichen, flachen Dach des Schlosses, das dem des Hohenaspergs ähnlich ist“, erklärt der Fachmann.

Nach der grauen Theorie in eben jenem Achtecksaal ist es für die Besucher an der Zeit, den Dachstuhl zu erkunden. Schon im Treppenhaus macht Tillmann Marstaller auf das unterm Putz verborgene Fachwerk aufmerksam – es ist klar an veränderten Farbnuancen zu erkennen. Die Tür geht auf, sofort weht einem die typisch stickig-warme Luft eines unisolierten Dachbodens entgegen, und der Blick wird frei auf die Balken, die sich auf einer beeindruckenden Länge aneinanderreihen. Dass es sich um ein herrschaftliches Gebäude handelt, sieht der Fachmann sofort am eingebauten „Schnickschnack“.

Wieder greift Tillmann Marstaller die Frage auf, wo das ganze Material herkommt. „Das Nadelholz hatte einen längeren Anfahrtsweg hinter sich, als es hier eingebaut wurde. Das sieht man an den Wiedlöchern, die über Eck gebohrt sind. Diese Form ist typisch für den Schwarzwald“, verrät der Forscher. Diese Löcher, auch Floßaugen genannt, sind von großer Bedeutung. Der Experte erkennt daran, dass die Hölzer mit Wieden als Bindeseile zusammengebunden waren. Diese robusten Seile stellten die Menschen einst aus jungen, drei bis vier Meter langen Laub- oder Nadelholzbäumchen her. Dazu wurden sie im „Bähofen“ erhitzt und im Wiedstock aufgedreht, weshalb der Begriff von winden kommt. Weil die Herstellung mühselig war, achteten die Flößer darauf, sie wieder mit in den Schwarzwald fürs nächste Floß mitzunehmen. „Manchmal hat man ganz großes Glück und in einem Floßauge steckt noch eine Originalwiede drin“, sagt Tillmann Marstaller. In ganz Württemberg hat er 15 Stück davon gefunden – eine davon im Kirchheimer Schloss.

In einer Breite von 2,70 Metern verband sich so Stamm an Stamm, und das Ganze nannte sich Gestör. Mit diesem Floß ging es vom Schwarzwald den Neckar hinunter bis Wendlingen, dann wurden die Stämme auf Ochsenkarren verladen und zur Baustelle nach Kirchheim gebracht. „Der Transport hat lange gedauert und die Flößerei war Mittel zum Zweck“, weiß Tillmann Marstaller.

Im Gegensatz zu Eiche ist Nadelholz schwimmfähig, doch weitere Gründe sprechen für letztere Baumart. „Beim Schloss handelt es sich um kein kleines Bauwerk. Die Balken müssen 15 Meter frei überspannen können und das ist nur mit Nadelholz möglich, denn Eiche ist verästelt und wächst auf solch einer Länge nicht so gerade“, sagt der Bauhistoriker. Zudem wächst Eiche langsam. „Die Fichte ist nach 30 bis 40 Jahren bauholztauglich, die Eiche braucht dazu 80 bis 120 Jahre“, führt er weiter aus.

12 bis 21 Meter war die normale Holzlänge und ein einziges Floß konnte über 300 Meter lang sein und aus 220 Stämmen bestehen. „Das war schon ein gewalttätiges Instrument, das von drei bis fünf Personen gelenkt wurde“, so Tillmann Marstaller. Mut und Geschicklichkeit waren gefragt, um mit der Strömung des Neckars und seinen Biegungen klarzukommen.

Die Flößerei von einst bestimmt bis heute den Alltag der Menschen. 15 Meter lichte Weite und damit die Hälfte der Strecke hat das Gebälk im Kirchheimer Schloss. „Das Verrückte daran: Die Maße kennen wir aus der Flößerei. Somit lässt sich sagen, dass die Floßholzlänge die Größe der Gebäude bestimmt hat – sie prägte mitunter auch die Breite der Häuser“, erklärt der Bauhistoriker. Deshalb wurde schon mal schräg gebaut, damit der Balken nicht abgesägt werden musste. Die Eisenbahn bedeutete das Ende der Flößerei, doch bis heute macht das einstige Gewerbe seinen Einfluss geltend auf das sie verdrängte Transportmittel. „Die größten Waggons sind exakt 21,43 Meter lang, was auf die 70-schuhigen Balken zurückzuführen ist“, überrascht Tillmann Marstaller seine Zuhörer.

Info

„Dem Herzog aufs Dach gestiegen“ lautet der Titel der Sonderführung mit Tillmann Marstaller, die am Sonntag, 12. Oktober, um 15.30 Uhr im Kirchheimer Schloss stattfindet. Eine Anmeldung bei der Schlossverwaltung Bebenhausen unter der Telefonnummer 0 70 71/6 02-8 02 ist erforderlich.