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„Das Leben in all seinen Facetten“

Zum Abschied aus Kirchheim berichtet Joachim Spieth über seine vielseitigen Erfahrungen als Strafrichter

Nach fünf Jahren verlässt Joachim Spieth das Kirchheimer Amtsgericht. Als Strafrichter hatte er es in dieser Zeit mit jedem zu tun, der in Kirchheim und Umgebung straffällig geworden ist – solange es sich nicht um Strafsachen handelte, die gleich vors Landgericht kommen.

„Das Leben in all seinen Facetten“

Kirchheim. Vom jugendlichen Ersttäter, der sich mit 14 Jahren wegen Ladendiebstahls vor Gericht verantworten muss, bis hin zum Brandstifter oder zum Vergewaltiger reicht die Bandbreite der Straftäter, über die Amtsrichter Joachim Spieth in Kirchheim zu urteilen hatte. „Die üblichen Dinge sind Körperverletzungen, Trunkenheitsfahrten, Diebstahl, Betrug und Drogengeschichten“, sagt der 35-Jährige rückblickend. Sexualdelikte seien nicht ganz so häufig, aber trotzdem „kommen sie leider immer wieder vor“.

Rund 900 Strafsachen fallen jedes Jahr am Kirchheimer Amtsgericht an. Und für alle diese Fälle war Joachim Spieth ganz allein zuständig – seit dem Ausscheiden von Albrecht Narr und Bernhard Schierig, als die Strafsachen auf einen einzigen Richter am Kirchheimer Amtsgericht konzentriert wurden. Dafür hatte es Joachim Spieth auch nicht mehr mit Zivilsachen zu tun. Bei den 900 jährlichen Strafverfahren handelt es sich überwiegend

um Fälle, „die ich am Schreibtisch erledige“. Wenn es um klare Sachen wie eine Trunkenheitsfahrt gehe, dann werde das mit einem Strafbefehl erledigt.

Es gibt aber auch wesentlich aufwendigere Verfahren. Aktuell stehen über 40 Aktenordner in Joachim Spieths Büro, die alle zu einem einzigen Verfahren gehören. Dieses Verfahren muss er seiner Nachfolgerin Franziska Hermle überlassen, denn am heutigen Freitag ist bereits sein letzter Arbeitstag in Kirchheim. Am 3. Januar nimmt Joachim Spieth seine Arbeit im Stuttgarter Justizministerium auf, wohin er abgeordnet wurde. Dort übt er eine „nicht-richterliche Verwaltungstätigkeit“ aus, „die aber trotzdem spannend ist“. Zuständig ist er in den nächsten drei bis vier Jahren für den Strafvollzug, speziell für Jugendliche. Wie es danach weitergeht, das lässt er auf sich zukommen. Auf jeden Fall aber möchte Joachim Spieth wieder als Richter tätig sein, denn das ist sein Traumberuf.

„Ich bin aus Idealismus Richter geworden“, sagt Joachim Spieth, gibt aber zu, dass er nicht mehr so leicht an das Gute im Menschen glaubt wie zu seinen Anfangszeiten. „Ich bin zu oft enttäuscht worden von Leuten, die gesagt haben, sie würden so etwas nie wieder machen. Heute sage ich in solchen Fällen: ,Warten wir‘s mal ab.‘“ Als Beispiel für diese Enttäuschungen nennt er einen Ladendieb, der mit Bewährung aus dem Gerichtssaal ging, um gleich im Anschluss wieder etwas zu stehlen – weil er ja ohnehin gerade in der Stadt war.

„Intensivtäter können wir nicht mehr abschrecken“, stellt der Amtsrichter sachlich fest. Aber bei den Jugendlichen rechnet er schon damit, dass sie sich beeindrucken lassen vom Amtsgericht und vom ganzen Prozedere. – „Das Problem an unserem Job ist ja, dass wir selten die Fälle sehen, wo es gut läuft. Wir haben immer nur die Negativbeispiele da. Aber Studien zeigen, dass die weit überwiegende Zahl der Jugendlichen gar nie straffällig wird“, bricht Joachim Spieth eine Lanze für die Jugend. Die anderen müssten sich vielleicht ein bis zwei Mal vor Gericht verantworten, und nur ganz wenige entwickeln sich zu Intensivtätern.

Wenn es aber so weit kommt, dann spielen nach Joachim Spieths Erfahrung die Verhältnisse eine wesentliche Rolle: „Wenn ein Jugend-licher aus schlechten familiären und sozialen Verhältnissen stammt, dann muss das nicht zwangsläufig zu einer kriminellen Karriere führen.“ Aber trotzdem gebe es bei fast jedem jugendlichen Intensivtäter die entsprechenden Verhältnisse.

Was zugenommen habe, dass seien Körperverletzungen, auch bei Schulhof-Raufereien. Die Zunahme führt Joachim Spieth aber vor allem darauf zurück, „dass heutzutage viel schneller Anzeige erstattet wird“. Die Straftaten an sich würden zurückgehen, aber die Gewaltbereitschaft nehme zu: „Da kommt auch mal ein Messer zum Einsatz.“ Als Jugendrichter sei er in diesem Fall der letzte in der Kette derjenigen, die erzieherisch auf die jungen Leute einwirken können.

Das Problem sei, dass häufig bereits die Eltern ihren Erziehungsauftrag gerne an die Schule abgeben würden: „Aber ein Lehrer kann doch nicht in ein paar Stunden pro Woche 30 Kinder erziehen.“ Für problematisch hält Joachim Spieth einerseits die Reizüberflutung der Jugendlichen durch Computer, Handy und Fernsehen. Andererseits hat er in den vergangenen fünf Jahren viele Fälle erlebt, die auf eine legale Droge zurückzuführen sind: „Alkohol ist ein ganz großes Problem. Er wird von vielen gar nicht mehr als Genussmittel angesehen, sondern nur noch als Mittel, um sich schnell bewusstlos zu trinken.“ Nicht bei allen, aber bei vielen Jugendlichen führe der übermäßige Alkoholkonsum dazu, dass die Hemmschwelle sinkt, die Aggressionsbereitschaft steigt und der Bezug zur Realität verloren geht.

Andererseits sind es vor allem auch die negativen Geschichten, die für Joachim Spieth seinen Beruf so spannend machen: „Wir bekommen das Leben in all seinen Facetten mit, auch in den weniger schönen. Und zu sehen, wie weit Menschen gehen können, gerade das macht es interessant.“