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Den fünften Sohn „au no hergebba“?

Überlieferungen einer Kirchheimer Familie zum Schicksal der Söhne und Brüder im Ersten Weltkrieg

Der Kirchheimer Karl Bayer (stehend links) hat dieses Bild im September 1913 als Postkarte an seinen Bruder Richard nach Mannhei
Der Kirchheimer Karl Bayer (stehend links) hat dieses Bild im September 1913 als Postkarte an seinen Bruder Richard nach Mannheim geschickt. Im Text auf der Rückseite schreibt er, dass er ebenfalls nach Mannheim kommen wird: um seinen Dienst beim „Luftschiffer-Bataillon Nr. 4“ zu leisten.Fotos: privat

Kirchheim. Meine Oma väterlicherseits war beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs gerade einmal zehn Jahre alt. Sie war in Kirchheim zur Welt gekommen, genau wie ihre beiden Schwestern und die sechs Brüder.

Sie war die zweitjüngste in der Geschwisterschar. Wie genau sie sich an ihre Brüder Richard und Karl erinnern konnte, kann ich nicht beurteilen. Aber immer wieder hat sie von ihnen erzählt, noch mehr als von ihren anderen drei Brüdern, die als Soldat im Ersten Weltkrieg dienten. Nur ihrem kleinen Bruder, dem sieben Jahre jüngeren Ernst, war dieses Schicksal erspart geblieben. Das half ihm allerdings nicht viel, denn er sollte später in den Zweiten Weltkrieg ziehen und mit schweren Verwundungen nach Kirchheim zurückkehren.

Wann genau die fünf Söhne von Johannes und Rosine Bayer, meine fünf Großonkel also, eingezogen wurden, weiß ich nicht. Die beiden, um die es hier hauptsächlich gehen soll, waren aber von Anfang an dabei, und beide kamen wohl bereits in den ersten Kriegsmonaten ums Leben. Auch hierzu ist Näheres nicht bekannt.

Im Familienstammbuch findet sich für „August Richard Bayer“ der offizielle Eintrag: „gest. laut Sterberegister von Mannheim vom 19.5.1915. Ort und Zeit unbekannt, Beerdigung in Dreibrunnen (Lothringen) im Grab 9“. In ihrer eigenen Familien-Bibel wiederum hat meine Oma akribisch die Daten ihrer sämtlichen Familienangehörigen festgehalten, und dort hat sie zu ihrem Bruder Richard vermerkt: „Kupferschmied geb. 23.4.92“ sowie „20. August 1914 gefallen in Frankreich“.

Zu ihrem Bruder Karl hat Julie Volz, geborene Bayer, eingetragen: „Schreiner geb. 15.3.1893“ sowie „6. November 1914 vermißt Frankreich“. Im Stammbuch wiederum steht zu „Carl Max Bayer“: „Durch Ausschlußurteil des Amtsgerichts Kirchheim vom 22. Juni 1933 auf 22. Januar 1920 für tot erklärt“.

Interessant ist, dass sich nur für diese beiden Brüder, Richard und Karl, eine Berufsbezeichnung in der Familien-Bibel finden lässt. Alle anderen waren ja noch am Leben, als sie eingetragen wurden. Bei den beiden gefallenen Soldaten allerdings muss schon das Bewusstsein vorhanden gewesen sein, dass man von ihnen mehr festhalten muss als nur Namen und Daten. Tatsächlich entsteht allein durch die Berufsbezeichnung schon ein persönlicheres Bild.

An beide Brüder wird außerdem auf dem Alten Friedhof in Kirchheim erinnert (siehe Fotos zum umseitigen Artikel). Dort sind alle Kirchheimer Soldaten, die im Ersten Weltkrieg ums Leben kamen, alphabetisch erfasst. Wenn es sich dabei um Brüder handelte, sind sie durch eine eckige Klammer miteinander verbunden.

Verbunden müssen Richard und Karl Bayer aber auch in ihrem (kurzen) Leben gewesen sein. Karl war nicht einmal ein ganzes Jahr jünger als Richard. Und in einem Familienalbum meiner Oma hat sich außerdem eine Postkarte erhalten, die Karl am „5. IX 13“ von Rastatt aus an seinen Bruder Richard in Mannheim geschrieben hatte. Auf der Bildseite ist der Absender zu sehen, Karl Bayer (stehend links). Die sitzende Person ist für mich derzeit nicht zu identifizieren. Der kurze Text auf der anderen Seite lautet: „Teile dir mit daß ich nicht nach Straßburg zur Inf[anterie] komme, sondern zum Luftschiffer Bat[ai]l.[lon] 4 jedenfalls nach Mannheim. Mit herzlichem Gruß d[ein] B[ruder] Karl.“

Dass es bei der kurzen Mitteilung um militärische Fragen geht, hängt mit dem Wehrdienst zusammen, den beide Brüder kurz vor Kriegsbeginn zu leisten hatten. Der Wehrdienst dauerte im Kaiserreich zwei bis drei Jahre – von der Möglichkeit zum „Einjährig-Freiwilligen“-Dienst für Gymnasiasten einmal abgesehen. Aber genau bei der mehrjährigen Wehrdienstzeit setzen für mich die persönlichen Erinnerungen meiner Oma ein.

Ihr Bruder Richard, pflegte sie zu erzählen, habe soeben seine Militärzeit hinter sich gebracht und sei froh gewesen, endlich die Uniform ausziehen und wieder seinem Beruf nachgehen zu können. Die große Bedeutung alles Militärischen in der Wilhelminischen Zeit hat also nicht alles und jeden in gleicher Weise geprägt. Richard Bayer zumindest dürfte kein Freund der Uniform gewesen sein. Trotzdem musste er, kaum dass er sie losgeworden war, die verhasste Soldatenkluft wieder anziehen, um in jenen Krieg zu ziehen, der später als „Weltkrieg“ und wiederum ein wenig später als „Erster Weltkrieg“ in die Geschichte eingehen sollte.

„Dr Richard“, so ging es in den Erzählungen seiner kleinen Schwester in den 1980er-Jahren stets weiter, „hat glei g’sagt, des überlebt er net.“ Das ist der wichtigste Satz, der in meiner Familie von Richard Bayer überliefert ist – und das mag daran liegen, dass der Satz zumindest nachträglich als Prophezeiung verstanden worden ist. Ob sich die Prophezeiung von selbst erfüllen musste, einfach nur, weil er sie ausgesprochen und an sie geglaubt hatte, ob sie überhaupt nur deshalb in Erinnerung geblieben ist, weil sie sich erfüllt hatte, oder ob es sich bei Richards frühem Soldatentod lediglich um einen unglücklichen Zufall handelte, das wird sich wohl nicht mehr herausfinden lassen. Unklar, und damit auch mysteriös, ist zudem die Faktenlage: Amtlich ist eben bescheinigt, dass er spätestens Mitte Mai 1915 nicht mehr am Leben war. Der handschriftliche Bibeleintrag dagegen („20. August 1914“) lässt Richard Bayer zu einem der ersten gefallenen Soldaten des Weltkriegs werden: Keine drei Wochen nach der Mobilmachung war er demnach schon zum Kriegsopfer geworden.

Wie es zum Eintrag genau dieses Sterbedatums in der Bibel gekommen ist, weiß ich nicht. Vielleicht hat die Familie den 20. August nachträglich errechnet anhand ausbleibender Feldpost. Längere Zeit aber muss die Familie mit Ungewissheiten und unbestimmten Hoffnungen gelebt haben. Ebenfalls erhalten hat sich nämlich eine Antwortpostkarte des Königlich Preußischen Kriegsministeriums. Abgestempelt wurde die Karte am 3. Oktober 1914 in Berlin. „Betr. Richard Bayer“ heißt es da handschriftlich auf dem vorgedruckten Formular, in dem das „Zentral-Nachweise-Bureau“ amtlich mitteilte: „Angefragter ist als verwundet […] gemeldet. Näheres nicht bekannt.“

Bei Karl Bayer ist „Näheres“ noch weniger bekannt. Auch bei dem „6. November 1914“ gehe ich davon aus, dass dieser Tag als Vermissten- und damit wohl auch als Sterbedatum rekonstruiert ist, weil keine Post mehr kam. In seinem Fall hatte die Familie aber noch über viele Jahre hinweg Kontakt zu seiner Verlobten aus Karlsruhe. Sie hat nie geheiratet, und meiner Oma zufolge muss sie immer gesagt haben: „So einen wie den Karl gibt es ja doch nicht mehr.“

Ob es sich bei dieser Aussage um reine Romantik handelte oder um eine realistische Einschätzung – angesichts der Gefallenenzahlen und des dadurch bedingten Frauenüberschusses nach dem Krieg –, sei dahingestellt. Die Familie aber tendierte eher zur Romantik und zur Vorstellung von der treuen Liebe über den Tod hinaus. Und tatsächlich vermag die Geschichte mitsamt der Aussage der Braut auch hundert Jahre später noch zu berühren.

Dass die Familie sich 1933 schließlich dazu durchgerungen hat, den vermissten Bruder für tot erklären zu lassen, hatte rein rechtliche Gründe: Nachdem meine Urgroßmutter Rosine Bayer sechs Jahre nach ihrem Mann Johannes gestorben war, mussten die sieben verbliebenen Geschwister entsprechend handeln. „Wega’m Erba“, sagte meine Oma stets lapidar, wenn es um dieses Thema ging. Sonst hätte man durch acht teilen müssen, statt durch sieben, und den achten Teil hätte niemand abgeholt. Aber ohne diese juristische Notwendigkeit hätten die Brüder und Schwestern wohl bis zum eigenen Lebensende daran festgehalten, dass ihr Bruder Karl offiziell nicht tot, sondern lediglich vermisst war.

Die wichtigste Überlieferung der Familiengeschichte zum Ersten Weltkrieg hat aber mit allen fünf Söhnen zu tun, die in diesen Krieg ziehen mussten, und die beiden gefallenen spielen dabei eine ganz besondere Rolle: Als der jüngste der fünf, Albert Bayer (Jahrgang 1900), eingezogen werden sollte, hat mein Urgroßvater Johannes Bayer einen letzten, verzweifelten Versuch unternommen, um diese Einberufung möglicherweise noch zu verhindern. Originalton meiner Oma: „Dann hat mei Vadder em Keenich [= dem König] en Brief g’schrieba.“ Inhalt des Briefs, der mir leider nicht vorliegt (so wenig wie die Antwort), in mündlicher Überlieferung: „Ob denn des sei könnt‘, dass mr, wenn mr scho vier Buba in da Krieg g’schickt hat und wenn zwoi von dene scho nemme z’rückkomma send, dass mr dann da fenfte au no hergebba muss?“ Die hochoffizielle Antwort lautete in etwa – kurz und bündig: Ja, das müsse wohl sein. Ziemlich sicher kam die Antwort nicht vom württembergischen König selbst, sondern vom entsprechenden Ministerium. Und ziemlich sicher haben viele andere Familien auf viele ähnliche Briefe ganz ähnliche Antworten bekommen.

Bei allem Unglück aber gab es für die Familie Bayer in Kirchheim auch das große Glück, dass die anderen drei Brüder ihren Einsatz im Weltkrieg überlebten – sowohl der bereits erwähnte Albert als auch der älteste Bruder Eugen (Jahrgang 1890) und der 1895 geborene Wilhelm.

Während mir nichts davon bekannt ist, was meine Oma über die Kriegserlebnisse ihrer Brüder Eugen und Albert gewusst oder gar erzählt hat, weiß ich doch zum Abschluss noch eine Anekdote zu berichten über das Kriegsende, wie es ihr Bruder Wilhelm in englischer Gefangenschaft erlebt hat. „Der isch dann bei Manchester in a Lager komma ond hat sich glei für da Dienscht in der Küche g‘meldet“, sagte sie regelmäßig. Und nach einer kurzen Pause fügte sie folgende Pointe hinzu: „Ond wie er wieder hoimkomma isch, isch er stärker [= besser genährt] g’wesa, als bevor er in da Krieg zoga isch.“

PostkarteHistorisch
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